Preßnitztalbahn-Meilensteine
Teil 7: Wie die „90“ zurück nach Jöhstadt fand
Am 20. August 1992 kam die IV K 99 1590-1 als zweite Dampflok zur im Entstehen begriffenen neuen Preßnitztalbahn nach Jöhstadt, denn die im Spätherbst 1991 zusammen mit der 99 1568-7 erworbene 99 1542-2 war vom zwischenzeitlichen Abstellplatz in Wilischthal direkt ins Reichsbahnausbesserungswerk (Raw) nach Görlitz gebracht worden. Auch vielen Vereinsmitgliedern war dieser Zuwachs an Lokomotiven innerhalb kürzester Zeit regelrecht unheimlich. Und doch könnte man sagen, dass das mit der „90“ so kommen musste – erst recht, wenn man dem Schicksal bei solchen Ereignissen eine gewisse Rolle zuspricht.
Abschied und Abgesang
Als nach Ablauf der Einsatzfrist am 18. September 1980 das Feuer im Kessel der 99 1590-1 im Lokschuppen in Jöhstadt verlosch, hatte diese Lok der sächsischen Gattung IV K bereits eine abwechslungsreiche Einsatzgeschichte hinter sich. Und es sollten 14 Jahre verstreichen, bis im Dampferzeuger der Maschine das nächste Feuer angezündet wurde. In ihrem letzten Einsatzjahrzehnt unter DR-Regie hatte die Lokomotive überwiegend zwischen Wolkenstein und Jöhstadt gearbeitet, fotodokumentarische Berühmtheit erlangte sie aber für die Eisenbahnhistoriker im Frühjahr 1979 durch den Einsatz beim Streckenrückbau zwischen Stützengrün und Schönheide Süd. Als „Stilllegungs- oder Abbaulok“ in die Geschichte der Preßnitztalbahn einzugehen, blieb 99 1590-1 erspart – die Deutsche Reichsbahn hatte nach dem Ablauf der Kesselfrist keinen Bedarf mehr an der Maschine und sparte sich eine neuerliche Untersuchung an der Lok. Den Winter 1980/81 verbrachte sie noch in Jöhstadt „auf dem Rand“. Per Verkaufsprotokoll vom 7. April 1981 über 4000 Mark der DDR wechselte die Lok (die laut Protokoll zu diesem Zeitpunkt noch mit einem Bruttowert von 91 000 Mark in den Büchern stand) in das Eigentum der Stadt Oschatz. Daraufhin überführte die Deutsche Reichsbahn die IV K von Jöhstadt zunächst nach Oschatz. Dort ließ sie die Stadt Döbeln im Sommer auf einen Culemeyer-Anhänger verladen und präsentierte die als 99 590 beschilderte Lok darauf anschließend am 28. Juni 1981 beim Festumzug zur 1000-Jahr-Feier der Stadt Döbeln. Warum die Stadt Döbeln zunächst plante, die Lok als Denkmal aufzustellen und wer dann wenig später erkannte, dass der „Wilde Robert“ nur wenige Kilometer von Döbeln entfernt um Mügeln noch in Betrieb war und deshalb kein Denkmal benötigte, bleibt wohl einer dezidierten Recherche im dortigen Stadtarchiv vorbehalten. Jedenfalls kehrte die IV K nach dem Festumzug nach Oschatz zurück und sah sich die Reichsbahn fortan wieder als Eigentümer der Lokomotive an. Die Mügelner Lokschlosser demontierten mehrere für die Betriebsmaschinen benötigte Teile. So fristete die 99 1590-1 auf den Abstellgleisen des Bahnhofes Oschatz im gefledderten Zustand mehrere Jahre ein unwürdiges Dasein. Im Jahr 1987 interessierte sich das Raw „Einheit“ Leipzig in Engelsdorf für die Lok. Das Verkehrsmuseum Dresden stellte eine „Unbedenklichkeitsbescheinigung“ aus, dass es „für die genannte Schmalspurlokomotive 99 590 zur Weiterverwendung als Lehrobjekt keine Einwände“ hätte. War zunächst eine Aufstellung der Lok im Ferienlager des Raw in Oybin im Zittauer Gebirge angedacht, verblieb sie letztendlich auf dem Gelände des Raw „Einheit“ Leipzig. In Unterrichtsstunden des Faches „Produktive Arbeit“, das die Schüler ab der 9. Klasse der POS zu absolvieren hatten, wurde die Lok als Anschauungsstück in Verbindung mit der Lehrlingsausbildung im Raw optisch aufgearbeitet, um einige zuvor fehlende Teile ergänzt und zum „Traditionskabinett“ des Raw gehörend am 10. Mai 1989 auf einem kurzen, neun Meter langen Gleisstück aufgestellt.
Aus den Augen – aber nicht aus dem Sinn
Als der Wiederaufbau der Preßnitztalbahn begonnen hatte, war das Thema Dampfloks unter den Aktiven bei und nach den Tagesaktivitäten am Lokschuppen, bei der Materialgewinnung, bei Arbeiten an den ersten Fahrzeugen sowie auch beim Abendessen „bei der Lena“ oder in der „Ecke“ und in den Gesprächen danach immer omnipräsent. Kein Abend ohne Spekulationen, Träumereien oder „Wünsch-Dir-Was“-Diskussionen darüber, welche Loks und Wagen zur Museumsbahn passen würden. Hätte darüber jemand eine Statistik geführt, dann wäre die „90“ mit Sicherheit auf einem der vorderen Plätze gelandet. Auf vielen Bildern der gelegentlichen Diaabende war „sie“ dabei. Ja, die „90“ als alte Jöhstädterin musste wieder her. Aber sie war außer Reichweite – denn schließlich gehörte das Werksgelände eines Raw nicht zum öffentlichen Bereich, den man einfach so einmal besuchen konnte.
Erste Kontaktversuche mit dem Raw Leipzig blieben unbeantwortet. Ein Fan-Brief mit der Bitte um Abgabe an die IG Preßnitztalbahn e. V. eines jugendlichen Vereinsmitgliedes namens André Marks fand sich später sogar abgeheftet im Betriebsbuch der Lok. Als dann zum Jahreswechsel 1991/92 schon zwei IV K dem Verein gehörten, steigerte sich die „Nachfrage“ nach der „90“ unter den Aktiven deutlich. Als im Frühjahr 1991 eine erste Reaktion aus Leipzig kam, war die Antwort eher ernüchternd: Ein Verkauf der Denkmallok sei nicht vorgesehen. Der damalige Vereinsvorsitzende Kay Kreisel unternahm weitere Anläufe unter Aufbietung aller Argumente der Notwendigkeit der Lok für die im Aufbau befindliche Museumsbahn, so dass es im Juli hieß, das Raw wolle die Lok zwar nicht verkaufen, aber über eine Ausleihe könne man reden. Leihen stand zwar auf der Prioritätenliste nicht ganz oben, aber das war immerhin ein Handreichen. Am 28. Juli 1992 fand eine Ortsbegehung in Leipzig statt, bei der auch der Leihvertrag unterzeichnet und das tatsächlich vollumfänglich vorhandene Betriebsbuch des Fahrzeuges übergeben wurde. Herr Berthold vom Raw wies dabei aber deutlich darauf hin, dass die Lok nur „wie gesehen“ und ohne Ansprüche auf Funktionsfähigkeit übernommen werden könne. Na gut, das war wohl zu verschmerzen. Letzte Zweifel an der formalen Zulässigkeit der Abgabe der Lok an die IG Preßnitztalbahn e. V. konnten mit einem initiierten Schreiben aus der Rbd Dresden an den Werkdirektor Herrn Steigert vom 30. Juli ausgeräumt werden. In diesem Schriftstück bescheinigte ein dem Verein in Jöhstadt freundlich verbundener Mitarbeiter, dass die Lok für den Betrieb der Reichsbahn nicht mehr relevant sei, sie nicht mehr im Bestand geführt würde, ausreichend Loks gleicher Bauart bei der DR zur Verfügung stünden und sie deshalb an die Preßnitztalbahn abgegeben werden dürfe.
Heimreise
Am Donnerstag, dem 13. August 1992, startete die Operation „Heimreise“. Mangels einer Niederlassung des inzwischen häufig genutzten Kran- und Transportdienstleisters Euromietkran in Leipzig beauftragte die IGP vor Ort die Firma Baumann mit der Bereitstellung eines 60-t-Autodrehkranes. Schnell war klar, dass die Lok vom bisherigen „Sockel“ nur mit zweimaligem Absetzen auf dem Pflaster des Weges zwischen den Werksgebäuden zum nächstgelegenen Standort des bereitgestellten Loktransportwagens zu bringen sei. Als der Kran dann am Vormittag mit Verspätung auftauchte und der Kranführer mit einem gerüttelten Maß an Überheblichkeit und Besserwisserei an die Aufgabe heranging, blieb den drei den Einsatz betreuenden Vereinsmitgliedern nur das ständige Bemühen, sich gegenseitig Beruhigung und Gelassenheit zuzusprechen. Der Gipfel der Unverfrorenheit war erreicht, als die Lok beim zweiten Absetzen einen zentralen Durchfahrtsweg im Werk blockierte – und der Kranbediener sein Führerhaus für eine halbstündige Mittagspause hermetisch dicht machte. Nur mit Mühe unterblieben handgreifliche Auseinandersetzungen. Nervenberuhigend hätte hier auf jeden Fall das spätere Wissen geholfen, dass die Kranfirma in Fortsetzung des kundenunfreundlichen Verhaltens ihres Fahrers offensichtlich auch keine Übersicht über ihre Aufträge und Rechnungslegungen hatte und damit dem Verein einen für knapp 5000 DM völlig überteuert angebotenen Kraneinsatz kostenlos erbrachte. Genau eine Woche nach der Verladung brachte eine Überführungsfahrt den Schmalspurtransportwagen mit der nicht rollfähigen Schmalspurlok am 20. August an die Ladestraße der damals noch existenten Station Annaberg-Buchholz oberer Bahnhof. Mit „Euromietkran“ folgte das letzte Wegstück, bis die „90“ wieder am heimischen Lokschuppen stand. Am 9. September 1992 teilte das Raw Leipzig mit, dass die IG Preßnitztalbahn e. V. das Gleisstück und den Schotter des Sockels nicht abholen müsse, man hätte dafür intern eine Verwendung gefunden. Wenige Wochen später wurde die „90“ bei einer weiteren Verhandlungsrunde mit dem Lokverkäufer der Deutschen Reichsbahn mit auf den Wunschzettel geschrieben – die formale Freigabe hatte die Rbd Dresden ja schon Ende Juli gegeben. Als die zentrale Verkaufsabteilung für Maschinentechnik das Raw Leipzig über den erfolgten Verkauf der IV K an die IG Preßnitztalbahn e. V. informierte, löste das dort nur ein Achselzucken aus. Die Lok war aus Engelsdorf weg, da war das eh egal. Aber dafür war sie wieder in Jöhstadt zu Hause und am 4. Oktober 1994 durfte sie nach einer im Raw Görlitz absolvierten L7-Untersuchung erstmals wieder dampfen – bei der Lastprobefahrt auf der Weißeritztalbahn.
Anmerkung
Für das Raw Leipzig in Engelsdorf war der Abgang der „Traditionslok“ nur ein weiteres Zeichen für den bereits laufenden Abstieg. Von etwa 2300 Mitarbeitern im Jahr 1990 war zwei Jahre später nur noch rund die Hälfte im Werk beschäftigt. Die „Langfristige Werkeordnung“ sah 1993 für das Jahr 1997 die Komplettschließung des Standortes Engelsdorf vor. Eine Investorengruppe übernahm jedoch vorher Teile des Werkes. Über mehrere Zwischenstationen mit unterschiedlichen Eigentümern setzt heute die RailMaint GmbH auf rund einem Fünftel des ehemaligen Werksgeländes mit knapp 200 Mitarbeitern Güterwagen instand.
05.08.2017
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