Schmalspurbahn-Geschichte
Rückblick auf das Jahr 1990 - Teil 3: Abseits des Regelfahrplans
Ein Rückblick über den Zustand bei den Schmalspurbahnen auf dem Gebiet der „Noch-DDR“ im Sommer 1990 kann sich logischerweise nicht nur mit einer Sichtweise auf das „Dampflokeldorado“ oder die „Rettung vor dem Braunkohletagebau“ beschränken, die in den ersten beiden Teilen der Rückschau Schwerpunkt waren. Ungemach drohte für die Schmalspurbahnen eher von anderer Seite, die sich für den Reisenden in langsam zuckeliger Fahrt oder in der Assoziation mit der Schaukelei auf einem Kamel erschloss. Die Deusche Reichsbahn hatte in den Achtzigern große Probleme an vielen anderen Fronten des völlig überlasteten regelspurigen Streckennetzes zu lösen, da waren die Schmalspurbahnen – noch dazu mit unterschiedlichen Spurweiten – eher ein Nebenschauplatz. Grundhafte Erneuerungen der Gleisanlagen waren gänzlich ausgeblieben, Instandhaltungen an den Strecken hieß zuallererst Improvisation und das Flicken der größten Probleme. Schienenbrüche, abgängige Stöße, wetterbedingte Beschädigungen, Weichenstörungen und nicht zuletzt die generell auf Verschleiß betriebene Infrastruktur hielten die Mannschaften in Bewegung. Den Bahn- und Fernmeldemeistereien, die die Zuständigkeiten für die Anlagen hatten, standen dabei heutzutage eher mittelalterlich anmutende Ausrüstungen zur Verfügung – nicht zu vergleichen mit den heute einsetzbaren Mehrwegefahrzeugen und gewichtsoptimierten Werkzeugen. Da beinahe alle Schmalspurstrecken im Osten Deutschlands, mit Ausnahme der Bahnen an der Ostseeküste, auch noch regelmäßigen Güterverkehr zu bewältigen hatten und damit die Versorgung der durch Anschlussgleise angebundenen Fabriken und Produktionsstätten – egal ob Stahlschmiede oder Brauerei – für diese lebenswichtig waren, blieben Instandsetzungsarbeiten an den Gleisen auf Zuglücken oder nur kurze Sperrpausen beschränkt. Dass ganze Strecken, wie heute vielfach insbesondere im November oder im Frühjahr praktiziert, für längere Zeit den Zugbetrieb einstellen könnten, war 1990 undenkbar. Diesen Umstand der notwendigen „technischen Aufrüstung“ für die Instandhaltung der Strecken hatte die Deutsche Reichsbahn schon erkannt. Mitte der 1980er Jahre wurde zwischen der DDR und der ČSSR eine Vereinbarung über die Lieferung von Gleisbaumaschinen abgeschlossen. In den folgenden Jahren wurde die DR daraufhin mit verschiedener Technik des Herstellers MTH von den Standorten in Vrútky und Vranov nad Topľou in der Slowakei beliefert. Eine große Verbreitung erreichten dabei insbesondere die Schwellenwechsler (oder gleisgebundene Bagger) vom Typ SVP-74 mit unterschiedlichem Anbauequipment, die zunächst in größerer zweistelliger Stückzahl bei Bahnmeistereien auf der Regelspur eintrafen. Ab 1990 wurden dann auch die Schmalspurbahnen (750 mm und 1000 mm) der DR damit ausgerüstet. Der folgende Rundreisebericht zu den verschiedenen Strecken im Sommer 1990 bietet dazu ein paar interessante Streiflichter über den Zustand und das Baugeschehen auf den Bahnen.
Konversion bietet ungeahnte Freiheiten – Besichtigungstouren abseits des Regelfahrplans
von Jörg Müller
Der Wende-Herbst 1989 brachte neben dem Ruf „Wir sind das Volk“ auch andere interessante Forderungen wie „Stasi in die Produktion“ mit sich. Nun mögen Historiker feststellen, wie viele Mitarbeiter dieses auf ganz andere Aufgaben spezialisierten Ministeriums tatsächlich daraufhin für Produktionsaufgaben freigestellt worden waren, die Vermutung liegt nahe, dass es nicht viele gewesen sein können. Anders dagegen im Ministerium für Nationale Verteidigung der DDR, dort setzte man den Ansatz von Gorbatschows Perestroika ziemlich radikal um und schickte ab Januar 1990 zahlreiche Truppenteile der NVA sehr konsequent in Produktionsbetriebe. Verteidigungsbereitschaft war einmal, es war ja plötzlich auch das frühere „Feindbild“ abgeschafft worden. Diese extreme Form der Konversion brachte für mich im Rahmen meines Wehrdienstes bei einer Artillerieeinheit ungeahnte Freizeitanteile, denn 24-Stunden-Dienste bei der „Bewachung“ einer leeren Kaserne oder Schichtarbeit u. a. im Eilenburger Chemiewerk wurden gerechterweise mit viel Freizeit kompensiert. Dank großzügig auslegbarer kostenfreier Heimfahrtregelungung mit den Zügen der Deutschen Reichsbahn zum frei gewählten Heimatort stand plötzlich die ganze Republik zur günstigen Bereisung offen. Also Fahrrad geschnappt, nächsten „Heimatort“ (der dann öfter mal in der Nähe einer Schmalspurbahn lag) auf den Antrag zum verlängerten Kurzurlaub geschrieben und ab ging die Fahrt. Der Vorteil dieser Reisevariante war, dass man einfach losfuhr und sich davon überraschen ließ, was man am Zielort vorfandt – eine Option, die in Zeiten des Internets nur noch selten Verwendung finden wird.
17. Juli 1990: Schmalspurbahn Oschatz – Kemmlitz
Da es beim „Wilden Robert“ bekanntermaßen keinen Personenverkehr mehr gab, musste ein Besuch an einem Arbeitstag stattfinden, um Güterverkehr erleben zu können. Von meinem Arbeitseinsatz fünf Jahre zuvor (siehe PK 4/2010 Seite 15-17) hatte ich noch eine gute Vorstellung. Tatsächlich passte alles, nach Ausstieg in Oschatz stand der Güterzug nach Mügeln zur Abfahrt bereit. Kaum Zeit, mal noch über den großen Bahnhof in Oschatz zu schlendern. Aber Dank der vielerorts schlechten Gleislage war eine Fahrradverfolgung bis Mügeln überhaupt kein Problem, 99 1584-4 hatte an diesem Tag Zugdienst. In Mügeln angekommen, war ebenfalls keine Hektik zu verspüren. 99 1585-1 rangierte im Bahnhofsgelände den nächsten Zug nach Oschatz zusammen, 99 1564-6 erreichte mit einem folgenden Güterzug den Bahnhof Mügeln. Zur Freude des Fotografen wurde dann erst mal Aufstellung vor dem Lokschuppen genommen, vor der eine vierte IV K ohne Nummernschilder aufgerüstet wurde – Schmalspurherz was wolltest du mehr. Doch an diesem Tag bewegte sich kein Zug in Richtung Kemmlitz, auf dem Bahnhof in Mügeln war ein Gleisbautrupp in der Ausfahrt an mehreren Weichen beschäftigt. Elf Menschen, zwei Vibro-Stopfer, eine Schraubmaschine, viele Winden und Schottergabeln – mittels Fotografie kann man die Effektivität des Arbeitsfortschritts noch heute gut erahnen. Mangels geeigneter Schüttgutwagen wurde an einem Gleisabschnitt in der Ortslage von Mügeln mit einem W50-Kipper Erdstoff auf einer Transportplatte auf einem Rollfahrzeug befördert. Der fabrikneue SVP-74 der Bm Döbeln übernahm mit zwei Skl-Anhängern die Schotterbereitstellung.
31. Juli & 9. August 1990: Schmalspurbahn Freital-Hainsberg – Kurort Kipsdorf
Am Dienstag, dem letzten Tag im Juli, war auf der Strecke keine Bauaktivität zu erkennen, dafür gab es dichten Zugbetrieb mit gut gefüllten Personen- und Güterzügen. Der noch ziemlich neue SVP-74 stand in Dippoldiswalde und wies noch keine Gebrauchsspuren auf. Neun Tage später gelang der bildliche Nachweis, dass auch auf der Weißeritztalbahn die Gleisbauer an der Strecke arbeiteten. Aber auch hier das gleiche Bild: Mit wenig Technik und viel Handarbeit ging man die akuten Probleme an. Der allgemeine Streckenzustand erforderte vielfach Geschwindigkeitsreduzierungen, die besonders für die Güterzüge zu deutlichen Fahrtzeitverlängerungen oder auch Lastbeschränkungen führten. Durch die dichte Zugfolge mit Personen- und Güterzügen war es aber für die Gleisarbeiter kaum möglich, umfangreichere Arbeiten auszuführen. Immer wieder mussten sie ihre Arbeiten unterbrechen, den Arbeitszug in die nächste Kreuzungsstation bringen und einen befahrbaren Gleiszustand wieder herstellen.
2. August 1990: Schmalspurbahn Cranzahl – Oberwiesenthal
Der Gleiszustand der später unter „Fichtelbergbahn“ vermarkteten Strecke war vergleichsweise gut. Hier wirkte sich sicherlich auch die fehlende Verantwortung für eine Haupttrasse des Streckennetzes der Bahnmeisterei in Annaberg-Buchholz positiv aus, die der Strecke bereits gleichermaßen Aufmerksamkeit zuwendete wie den anderen Erzgebirgsstrecken. Auch diese Bahnmeisterei hatte Anfang 1990 einen neuen SVP-74 erhalten, der anfangs tatsächlich mit dem originalen Schwellenwechsleranbaugerät ausgeliefert wurde. Man hatte damit einige Versuche unternommen, tatsächlich quasi unter dem Fahrzeug Einzelschwellen mit der Anbauvorrichtung zu wechseln, doch die Stabilität des Fahrzeuges ließ sehr zu wünschen übrig. Teilnehmer der Versuche sprachen später davon, dass der Schwellenwechsler dabei mehrfach fast umgekippt sei. Danach forderte die Bm einen anderen Anbaugerätesatz, der Ende 1990 dann auch schon am Fahrzeug beobachtet werden konnte. Das Foto in dieser schlechten Qualität ist damit auch der einzige verfügbare Bildnachweis für diesen erfolglosen Versuch der Mechanisierung des Einzelschwellentauschs (auf der Webseite des Herstellers, der die Geräte immer noch baut, gibt es übrigens den Bild- und Videobeweis, dass diese Technologie funktioniert – allerdings auf russischer Breitspur). Für die Betreuung der Fahrzeuge bei der Deutschen Reichsbahn war übrigens die Gleisbaumechanik in Brandenburg zuständig.
9. August 1990: Schmalspurbahn Radebeul Ost – Radeburg
Im Unterschied zur Bahn am Fichtelberg hatte der „Lößnitzdackel“ auf ganzer Strecke mit einem sehr schlechten Oberbauzustand zu leben. Egal, ob Gleisanlagen in Radebeul Ost, den anderen Stationen oder auf der Strecke: Erhebliche Gleisverwindungen, ausgefahrene Schienenstöße und damit verbundene Einschränkungen der Geschwindigkeit waren der Fall. Im Bahnhof Moritzburg wurde bei laufendem Betrieb bei meinem Besuch gerade das mittlere Gleis umgebaut – Fahrgäste, die hier aussteigen wollten, waren also im Gleisbaugeschehen mittendrin. Doch auch hier das gleiche Bild: Das Gleisbett wurde nach Rückbau der Schienen per Hand auch komplett manuell freigelegt, die alten Schwellen auf den Skl-Anhänger gestapelt und danach wiederum komplett per Hand der Neuaufbau des Gleises praktiziert – eine Verfahrensweise, die heute nur noch bei Museumsbahnen angewandt wird.
Juli 1990: Zittauer Schmalspurbahn
Natürlich zählte auch ein Besuch bei der Schmalspurbahn im Zittauer Gebirge mit zu meinem Reiseprogramm. Auf eine Betrachtung des Gleiszustandes lohnt es sich deshalb hier aber nicht einzugehen, durch die geplante Stilllegung der Strecke war ohnehin das Instandhaltungsprogramm schon ziemlich reduziert worden und der allgemeine Zustand der Anlagen erschien dementsprechend erheblich abgenutzt. Hier half erst das in den folgenden Jahren durchgeführte umfassende Sanierungsprgramm. Wegen der geplanten Stilllegung war Zittau deshalb auch kein SVP-74 zugewiesen worden.
Der Reisebericht wird im Teil 4 mit den Besuchen bei den Schmalspurbahnen im Harz sowie beim Molli und beim Rasenden Roland an der Ostseeküste im Heft 146 fortgesetzt.
16.08.2015
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