Schmalspurbahn-Geschichte
Rückblick auf das Jahr 1990 – Teil 4: Auf in den Norden
Der 3. Oktober 1990 stellte für alle Menschen im damaligen „Osten“, aber auch für viele Bewohner der „alten Bundesländer“ eine gravierende Zesur dar. Alljährlich wird diesem Umstand in den verschiedenen Bundesländern mit Einheitsfesten Rechnung getragen, Politiker interpretieren die Entwicklungen vor und nach diesem Termin in ihrer jeweilige Intention – oder missverstehen sie bewusst. Für jeden Lebensbereich gab es in den Wochen vor und nach dem formalen Vollzug der Vereinigung der vorher beiden deutschen Staaten umwälzende Veränderungen, die sich bereits mit dem Einzug der Deutschen Mark in der DDR andeuteten. Der vierte Teil unseres Rückblicks „Vor 25 Jahren“ widmet sich einem Besuch bei den beiden Schmalspurbahnen an der Ostseeküste – „Molli“ Bad Doberan – Kühlungsborn West und „Rasender Roland“ Putbus – Göhren. Und dies genau zwei Wochen vor dem Ende der DDR, Mitte September 1990.
Nun mag das Ende der Sommersaison 1990, die bereits mit einem dramatischen Einbruch der Gästezahlen an den vormals beliebten Ostseeurlaubsorten der DDR-Bevölkerung einherging, auch den schon immer etwas morbiden Charme mancher Anlage verstärkt haben. Doch Fakt war, dass der Herbst an der Küste in der Regel von denen genutzt wurde, die nicht mit schulpflichtigen Kindern an die Sommerferienzeit gebunden waren. Manche Lokalität, zahlreiche Ferienheime und nicht zuletzt auch das ein oder andere touristische Ziel hatten bereits den Sommer über geschlossen, die Umstellung auf die D-Mark war für viele wohl zu hart gewesen. Einer ersten schlechten Saison sollten weitere folgen – das wusste man nur damals noch nicht – weil es länger dauerte, ein vormals angestammtes Urlaubsziel wieder in die Erinnerung der nun nach weltweit gänzlich neuen Zielen strebenden Bevölkerung zu bringen. Die beiden Schmalspurstrecken dagegen fuhren auch in diesen Monaten weiter wie Jahre vorher geplant. Aus Gesprächen mit den Eisenbahnern vor Ort jedenfalls wurde deutlich, dass die Sommersaison 1990 für die beiden Bahnen keinen guten Start in die Marktwirtschaft darstellte.
Auf in den Norden
von Jörg Müller
Den Abschied von „der Fahne“ (NVA) hatte ich Ende August vollzogen, der Einstieg in das Studentenleben sollte dann aber noch etwas auf sich warten lassen. Zwar war die Immatrikulationsveranstaltung am 4. September, doch bis zum 27. September hatte man den neuen Studenten der Hochschule für Verkehrswesen (HfV) in Dresden nun Selbststudium verordnet – was für den Studienneuling natürlich freie Zeit verhieß, denn Selbststudienaufgaben waren noch ein Fremdwort. In den Plan der freien Tage vor dem Beginn des Studiums musste nun unbedingt noch eine Reise „in den Norden“ zu den Schmalspurbahnen an der Ostseeküste aufgenommen werden. Immer wieder war dieses Vorhaben zuletzt an anderen Dingen gescheitert. Zwei Tage für diese Reise mit zwei Streckenbesuchen sollten aber reichen – ein Irrglaube, dem man unbedarfterweise manchmal unterliegt.
Mitte September hieß es also, am Freitagvormittag mit Rucksack und Kamera in Dresden in den Zug zu steigen – um am Abend in Stralsund am Bahnhof festzustellen, dass dem Thema Übernachtung durchaus etwas Vorbereitung gut getan hätte. So blieb nach wenig erbaulicher Recherche vor Ort und mangelnder Hilfsbereitschaft von in Langeweile sterbenden Taxifahrern nur die Bahnhofshalle für eine ziemlich unbequeme Nacht, um dann mit einem der ersten morgendlichen Züge nach Bergen und von dort weiter nach Putbus zu gelangen. In Putbus meinte es die herbstliche Sonne gegen 7.30 Uhr schon recht gut und sorgte für das Vertreiben der letzten nächtlichen Kälte aus dem Körper – die Imbissverkaufsstellen in Stralsund und Bergen hatten leider um diese Tageszeit am Sonnabend noch kein Interesse, meine DM gegen ein wärmendes Getränk zu tauschen. Während die VII K 99 1782-4 mit dem ersten Zug des Tages aus Göhren eingefahren kam und für die Rückfahrt rangierte, inspizierte ich das Bahnhofsgelände. Vor dem Lokschuppen wurde gerade 99 4632-8 für den Tageseinsatz vorbereitet, im Putbuser Lokschuppen standen kalt abgestellt 99 4801-9 und 99 4633-6. Doch auch das „Drumherum“ mit dem vielfältigen und gegenüber den Strecken in Sachsen doch teilweise andersartigen Fahrzeugpark hatte es mir angetan – neben den sechs- und siebenfenstrigen Reko-Wagen gleicher Bauart wie in Zittau, Radebeul, Freital oder Oberwiesenthal gab es diverse „RüKB-Wagen“ in verschiedenster Ausführung, zumeist aber auch in wenig attraktivem Zustand. Lediglich den grauen und braunen zweiachsigen Güterwagen schien man meinem Eindruck nach verstärkt Unterhaltungsaufwand zukommen zu lassen. Der Rundgang durch alle Anlagen über den Schmalspurbahnteil des Bahnhofes Putbus verlief völlig ungestört, ohne dass dies auch nur einen der gelegentlich vorbeigehenden Eisenbahner interessiert hätte, und wurde dann nur durch den abfahrbereit pfeifenden Zug unterbrochen – das nebenan gelegene Ferienlagergelände mit seinen Schmalspurwagenkästen, die viele Jahre später wieder in die Schmalspurbahnwelt zurückkehrten, blieb mir dadurch weiterhin verborgen. Die Strecke zeigte sich im voll ausgewachsenem Grün, mancher Bewuchsabschnitt wurde durch die breitesten Fahrzeuge profiliert und das Herausschauen über die Fahrzeugumgrenzung von der Bühne führte mehrfach zu abrupten Rückwärtsbewegungen, sonst wäre die eigene Frisur neu gelegt worden. Die Stationsgebäude der Haltepunkte in Serams und am Jagdschloss waren Typenbauten von Haltestellenhütten, wie ich sie gut aus Dresden kannte. Attraktiv waren sie nicht gerade, aber wohl zweckmäßig als Bausatz zu bekommen. In Serams schien aber den ganzen Sommer über niemand einen Dschungelpfad dahin geschlagen zu haben. In Binz gab es keine Kreuzung mit einem Gegenzug, deshalb hielt der Zug direkt am Hausbahnsteig des markanten Gebäudes. Vor Sellin (heute Sellin Ost) musste der Zug dann jedoch zur Kreuzung warten, doch auch nach dem Hereinpfeifen durch den Gegenzug wollte unser Zug erst einmal nicht weiterfahren. Da erwartungsgemäß eine Dampflok für den entsprechenden Dampf sorgen muss, war die Herkunft der undurchdringlichen Qualmwolke vor dem Zug ja zunächst klar verständlich, bis sich herausstellte, dass in einem benachbarten Deponiegelände zwei 601er Trabant samt Inneneinrichtung in Feuer und Flamme standen und die Umgebung in nächtliches Dunkel tauchten. Ein paar freiwillige Brandlöscher waren zwar schon bei der Arbeit, hatten dabei aber die Querung der Gleise mit ihrem Schlauch sehr unkompliziert gelöst. Erst das nachdrückliche Pfeifen zweier wartender Lokomotiven brachte die Beteiligten zum Besinnen und kurzzeitigem Unterbrechen ihrer Löschaktivitäten. Die Zuglok des Gegenzuges im Bahnhof Sellin war dann die 99 1784-0. Die markanteste Besonderheit des Bahnhofes in Göhren bestand für mich zunächst einmal darin, dass das Gleis scheinbar gänzlich schotterfrei nur in Sand verlegt war – vielfach sah ich noch nicht einmal Schwellen. Das Bahnhofsgebäude mit seinem hölzernen Vorbaudach und halbhoher Bretterwand mit Scheiben verlor nur dadurch nicht gänzlich an Wirkung, da ein ungehinderter Anblick nur möglich war, wenn kein Zug davor steht. Also blieb es bei ein paar Aufnahmen von der Seite. Da auf meinem Kurzreiseplan noch eine weitere Bahnstrecke stand, hieß es, die Wendepause zu nutzen, und mal kurz die Füße in die Ostsee zu stecken. Die Strandkörbe standen zwar noch im Sand, aber Badegäste waren weit und breit keine mehr zu sehen, was vielleicht auch an der noch morgendlichen Zeit lag. Währenddessen kümmerte sich das Personal am Lokschuppen um die Restaurierung der Lok. Dann ging es mit dem gleichen Zug noch vor zehn Uhr zurück nach Putbus. Auch diesmal gab es wieder eine betriebliche Besonderheit, durch die offensichtlich auch die Kreuzungen der Planzüge etwas verschoben wurden. In Binz Ost kreuzten wir mit dem RüKB-Traditionszug mit den braunen Wagen und 99 4632-8 an der Zugspitze. Der nächste Regelzug in Richtung Göhren mit 99 1784-0 wurde dann in Posewald Kreuzung passiert.
Dank zwar nicht übermäßig schneller, dafür aber anschlusstechnisch gut aufeinander abgestimmter Zugverbindungen war die Fahrt von Putbus nach Bad Doberan vergleichsweise zügig bewerkstelligt und gegen 15 Uhr die andere Schmalspurbahn im damaligen Bezirk Rostock erreicht. Auch hier ging es mit einer Bestandsaufnahme der Schmalspurbahnanlagen und insbesondere einzelner exotisch anmutender Fahrzeuge los. Besonders ein schwer und massiv erscheinender Schotterwagen versuchte gar nicht erst, seine Herkunft aus einem Braunkohletagebau zu verbergen, die frühere Nummer des Fahrzeuges im BKK war noch lesbar. Mit dem von 99 2323-6 gezogenen Zug aus acht weinrot-beigen Sitzwagen und einem weinroten Gepäckwagen sollte dann alsbald die Fahrt in Richtung Kühlungsborn West beginnen – für mich war natürlich vor allem die enge Ortsdurchfahrt in Bad Doberan ein Grund, ständig zwischen den beiden Seiten der letzten Sitzwagenbühne hin- und herzuwechseln und die Eindrücke aufzunehmen. Leider fuhren die Züge in Richtung Kühlungsborn mit einem Zugführerwagen ohne Endbühne, so dass der rückwärtige Ausblick auf die Strecke erst bei der Rückfahrt möglich wurde. Bei der Kreuzung in Heiligendamm fuhr dann 99 2321-0 mit ihrem Gegenzug ein. Eine interessante Verladerampe für Rollstühle oder Kofferwagen fiel mir auf dem Inselbahnsteig zwischen den beiden Gleisen besonders auf, jedoch schien der Lokführer auch keine Anstrengung zu machen, diese Bühne mit der Ladetür am Gepäckwagen in Übereinstimmung zu bringen, und so mussten die mitgeführten Fahrräder und Pakete eben auf herkömmlichem Wege entladen werden. Dem Menschenauflauf zufolge, die in keinen der beiden kreuzenden Züge ein- oder aussteigen wollten, schien der Bahnhof in Heiligendamm schlechthin das kulturelle und kommunikative Zentrum des Ortes zu sein. Auch an der Endstation „Ostseebad Kühlungsborn West“ mit seinem markanten Bahnhofsgebäude aus Klinker nutzte ich die Zeit für einen intensiveren Rundgang der zugänglichen Bahnhofsanlagen und des Abstellbereiches. Allein beim Versuch des Betretens vom Lokschuppen erreichte mich eine inhaltlich völlig unidentifizierbare Stimme aus dem Hintergrund, deren Tonlage ich jedoch dahingehend interpretierte, dass ein Weitergehen wohl mindestens mit zehnmaligem Kielholen bestraft werden würde, so dass die beiden noch im Schuppen stehenden unbekannten Dampfer Ruhe vor mir behielten. Gegenüber dem „Rasenden Roland“ machte der „Molli“ einen geradezu gepflegten Eindruck und die Bahnhofsanlagen waren viel sauberer. Gleisunterhaltungstechnisch haben sich beide Bahnanlagen im Vergleich nicht groß unterschieden, durch die höhere Fahrgeschwindigkeit beim „Molli“ war jedoch der Schaukeleffekt im Wagen und auf der Bühne desto deutlicher zu spüren. Als Dresdner war ich aus dem Straßenbahnverkehr ja die tollsten Gleisverwindungen, ausgebrochenen Gleisplatten oder Schienenstöße mit Quer- und Höhenversatz gewohnt, deshalb empfand ich den Straßenzustand in Bad Doberan mit den Schmalspurbahngleisen auch nicht sonderlich verwunderlich.
Die Rückfahrt ließ ich mir dann auf der letzten Bühne mit einem Blick auf die Strecke gefallen und nutzte die abendliche Dämmerungsphase noch einmal für einen kleinen Rundgang durch die Bad Doberaner Anlagen. Hier hatte man schnell nach Ankunft des letzten Zuges alle Tore verschlossen, so dass ähnliche Risiken wie am anderen Streckenende ausgeschlossen waren. Mit Personenzug und Rostocker S-Bahn ging es für mich dann noch zu einem nächtlichen Abstecher nach Warnemünde und zum dortigen Strand – ein paar kühle Stunden in einem freien Strandkorb und die erste Zugverbindung am Sonntagmorgen brachte mich dann von Rostock wieder nach Dresden.
21.10.2015
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