Schmalspurbahn-Geschichte
Rückblick auf das Jahr 1990 – Teil 5: Auf ins Gebirge
Die fünfteilige Reihe mit Erinnerungen an das Jahr 1990 sollte einen Blick „25 Jahre zurück“ auf den Zustand der Schmalspurbahnen in der ehemaligen DDR werfen. 1990 stand der Umbruch in vielerlei Hinsicht noch bevor, die der Wechsel von einer Gesellschaftsordnung in eine andere mit sich bringen sollte. Viele Zöpfe mussten abgeschnitten werden und danach neu wachsen, manche Dinge liefen schon damals „wieder“ in die falsche Richtung und diese Erkenntnis wurde im Verlauf der folgenden 25 Jahre vielfach bestätigt. Die Beitragsreihe zeigte einem Streiflicht ähnlich Bezüge aus der Erinnerung und brachte mit dem Blick von heute den einen oder anderen Aha-Effekt für einen Teil der Leser. Andere fanden dadurch einen Ansporn zur eigenen Rückbesinnung, wie zahlreiche Leserzuschriften zur Artikelreihe bestätigten. „Was habe ich im Jahr 1990 getan?“, ist dazu sicherlich nur eine der auftretenden Fragen.
Gern schreiben wir hier im „Preß´-Kurier“ diese Geschichten fort, doch wollen wir dazu dann auch auf die Geschichten der Leser zurückgreifen. Senden Sie ihre Erinnerungen an die PK-Redaktion und schildern Sie, wie Sie zu den Schmalspurbahnen gefunden, was Sie dort erlebt haben und welche persönliche Erlebnisse Sie damit verbinden.
Auf ins Gebirge
Den Ausschlag zu dieser Reise gab ein Artikel im „eisenbahn magazin“ 7/1990. Die IG Preßnitztalbahn e. V. kündigte in einem kurzen Artikel Aktivitäten in Jöhstadt und auch in Vorbereitung der 100-Jahr-Feier 1992 an. Jöhstadt? Da ist noch was? Aber war die Schmalspurbahn Wolkenstein – Jöhstadt nicht schon einige Jahre stillgelegt? Wenn man 2015 mehr Informationen benötigt, befragt man üblicherweise zuerst das Internet. 1990 war für mich mangels eigenem umfangreichen Archivbestandes der Gang in die Bibliothek die erste Wahl. Viel Aktuelles war in den Beständen der städtischen und auch der Hochschulbibliothek nicht dabei – jedoch schien der Wiederaufbau einer Schmalspurbahn eine spannende Sache zu sein. Das Interesse war jedenfalls schnell geweckt, ein „Eisenbahnprojekt“ als Ergänzung zum Studium der Schienenfahrzeugtechnik erschien mir auch durchaus hilfreich, um mein noch rudimentäres diesbezügliches Wissen mit etwas Praxisbezug anzureichern. Auf einen ersten Brief vom 24. September an die IG trudelte auch schon wenige Tage später eine Antwort vom Geschäftsführer Ralph Böttrich ein und das Interesse wurde durch Neugier auf das Vorhaben komplettiert. Denn bisher war die Abzweigstelle des früheren Dreischienengleises ins Preßnitztal der einzige fotografische Beleg in meiner Sammlung von dieser Strecke, wenn bei der Fahrt im Eilzug nach Cranzahl ein kurzer Blick darauf erhascht werden konnte. Also musste eine „Kennenlern“-Fahrt ins Preßnitztal eingeplant werden, was sich durch den Anlauf des Semesters aber terminlich erst Ende November ergab und damit auch die angebotene Teilnahme an der Jahreshauptversammlung der IG Preßnitztalbahn. Ende Oktober nicht möglich machte.
Ein anhaltendes Herbsthoch hatte in Dresden auch Ende November noch angenehm warme Temperaturen geliefert, so dass die Vorbereitung der Reise ins Preßnitztal am 25. November 1990 im wahrsten Sinne des Wortes sehr hemdsärmelig erfolgte. Bewaffnet mit Kamera, Windjacke und Fahrrad ging es in morgendlicher Frische zum Dresdner Hauptbahnhof und danach mit den üblichen Zugverbindungen bis Flöha und von dort weiter nach Wolkenstein. Bisher war dieser Bahnhof nur Durchreiseort bei den Besuchen der Schmalspurbahn Cranzahl – Oberwiesenthal, nun stand ich erstmals auf dem Bahnsteig. Halb neun am Sonntagmorgen sind nach Weiterfahrt des Zuges kaum ruhigere Orte vorstellbar, denn das Bahnhofsgelände (obschon noch mit betrieblich besetztem Bahnhof) war komplett menschenleer. Die ersten Sonnenstrahlen zeigten sich an der Burg und am Talhang, doch unten im Tal war es noch eisig kalt. Rauhreif bedeckte die Vegetationsreste ringsum, während ich nach Resten der Schmalspurbahn Ausschau hielt. Mangels früherer Begegnung mit der Strecke im Betriebsalltag war die Suche nach Spuren mehr „iterativ“. Hier der Güterschuppen, da der frühere Schmalspurlokschuppen, den die Bahnmeisterei mit einem Regelspurgleis versehen hatte, und gelegentlich dazwischen ein paar Relikte.
Ja, hier begann einmal eine Schmalspurbahn. Getrieben durch die vorwinterliche Kälte und unangepasste Kleidung blieb keine Zeit für langes Herumschlendern. Einzig die Bewegung auf dem Fahrrad versprach, zu innerer Erwärmung zu kommen. Jemand, der heiße Getränke offerierte, war natürlich weit und breit nicht in Sicht. Die Straßenführung gibt zunächst nur wenig Chancen, an das Streckengleis heranzukommen und für einen Abstecher zum früheren Güterbahnhofsteil von Wolkenstein war mir noch nicht wieder warm genug. An der Brücke der Strecke Annaberg – Flöha über die Talstraße musste ich aber doch einen kurzen Blick auf die Gleisanlagen werfen. Das Dreischienengleis gab es tatsächlich noch und es glänzte in der morgendlichen Sonne gerade so, als wären alle Schienen noch in regelmäßiger Benutzung.
Die Abzweigstelle von der Regelspurstrecke war mit dem Fahrrad nicht erreichbar, aber am gegenüberliegenden Widerlager der Zschopau-Querung wurde ich fündig, der Rückbau hatte vor den letzten 30 m Gleis auf Betonschwellen Halt gemacht. Nur die Hakenschrauben hatte schon jemand frisch abgebaut. Wie viele Jahre oder Monate der Abbau an einzelnen Stellen der Strecke schon abgeschlossen gewesen war, wusste ich nicht. Immer wieder waren auf dem Bahndamm einzelne Gleisjoche, Schienen oder auch Schwellen zurückgeblieben. Auf dem Gelände des ehemaligen Haltepunktes Streckewalde sah es fast so aus, als wenn der Wiederaufbau der Strecke schon in vollem Gange wäre. Rund 50 Gleisjoche mit Betonschwellen waren hier gestapelt und Schotter in größeren Mengen davor aufgeschüttet (der aber, so erfuhr ich später, hier nur für eine Straßenbaustelle abgelagert war).
Aber auch hier niemand, den man hätte fragen können, wo denn die Baukolonne gerade wirbelt. In Großrückerswalde musste nicht mehr von Relikten gesprochen werden, hier gab es scheinbar noch einen intakten Bahnhof. Zwei Wagen, eine Lore und mehrere Haufen verschiedener Gleisbaumaterialien waren auf den ersten Blick zu identifizieren. Der zweite, schon etwas genauere Blick, offenbarte dann aber, dass auch dies nur Reste waren. Den Weichen fehlten relevante Teile, die Materialhaufen entpuppten sich eher als Schrottansammlungen und die Wagen hatten im Bemühen um Rostschutzmaßnahmen eher einen Tarnanstrich bekommen. Nun mag es zum Teil der noch immer eisigen und rauhreifbesetzten Natur zuzuschreiben sein, aber Hoffnung auf eine baldige Wiederaufnahme des Fahrbetriebes war mit Sicherheit die am weitesten entfernte Emotion. Allein die Infos und Zeitungsartikel im Fenster des Stationsgebäudes gaben Aufschluss über Aktionen („Retten was zu Retten ist“), das ambitionierte Ziel einer Museumsbahn und einige bildliche Darstellungen.
Weiter führte die Fahrradtour auf der Preßnitztalstraße und weitgehend unbehelligt von Autos mit gelegentlichen Fotostopps nach Niederschmiedeberg. Auf dem ehemaligen Bahnhofsareal sah es so aus, als sei die Eisenbahn fluchtartig abhanden gekommen und hätte dabei diverse Wagenkästen am Rande vergessen. Die morgendliche Sonne hatte sich inzwischen gut hinter einer Hochnebelsuppe verschanzt, die Temperaturen aber gefühlt über die Null-Grad-Grenze angehoben. In gespannter Erwartung setzte ich die Fahrt fort. Was würde nun auf den anderen Stationen noch kommen, denn bisher waren von der Schmalspurbahn zwar noch genug Rudimente zu erkennen, aber bei Gleis- und Brückenabbau schien man stellenweise ziemlich rabiat vorgegangen zu sein. Vom Viadukt in Oberschaar fehlten sogar einige Widerlagerblöcke, während andere noch ziemlich komplett wirkten. Systematischer Abriss sieht anders aus. Im Gelände des Bahnhofes Steinbach gab es einen Mix aus wilder Ablagerung aller möglicher Baumaterialien und einer durch Umzäunung mit einem Neubau einer Kindereinrichtung erfolgten „Geländegestaltung“. Dass das Wasserhaus erreichbar gewesen wäre, hatte ich leider übersehen. Spätestens hier war mir also klar, dass der Eisenbahn für immer die Fläche entzogen worden sein sollte.
Bei der Weiterfahrt auf dem Rad vollzog sich ziemlich zügig der Wandel von Rauhreif zu Schnee und von ein paar spärlichen Stellen zu flächiger Verteilung. Spätestens hier konnte die gewählte Kleidung und das genutzte Verkehrsmittel eindeutig nur noch als falsch identifiziert werden, aber der Weg zurück war ja nun genauso lang wie der bis zum vorgesehenen Zielbahnhof in Cranzahl. Zum Glück kannte ich die folgenden Steigungsverhältnisse damals noch nicht, sonst wäre spätestens in Schmalzgrube die Umkehr zurück nach Wolkenstein erfolgt.
Als der Blick von der Straße zum Bahndamm vor Schlössel frei wurde, hatte sich aber etwas verändert. Hier lagen nicht mehr alte Schwellen auf dem Damm, hier war planiert worden. Zwar war auch aus der Ferne zu erkennen, dass das kein perfekter Bauuntergrund sein konnte, aber es wohl auch noch nicht so lange her gewesen sein musste, dass hier eine Raupe gefahren war. In Schlössel ein ähnliches Bild: Auch hier lagen zwar noch Baumaterialreste am Rand, aber der Bahnkörper schien planiert worden zu sein – doch, zweifelsohne gab es hier erste Hoffnung, was wohl um die nächste Ecke kommen würde.
Der Anstieg in Jöhstadt mit dem Fahrrad reichte dann aus, genug Wärme zu generieren, um das Bahnhofsareal und den Bereich am Lokschuppen zu inspizieren. Zwischen trostlosem Anblick bei der Betrachtung des Wohnblockes auf dem früheren Gleisbereich zwischen Bahnhofsgebäude und Lokschuppen bis zum Erkennen erster Aufbauaktivitäten am Heizhaus pendelten die Emotionen. Etwa 50 m Gleis schauten aus dem Stand 3 des Schuppens, die Schutt- und Materialhaufen schienen einer gewissen Ordnung folgend aufgeschichtet zu sein. Ok, hier schien tatsächlich etwas Neues zu entstehen.
Es war Mittagszeit und niemand anzutreffen. Der Hochnebel hatte sich herabgesenkt, die Temperaturen waren wieder unter Null Grad und die Tristesse ziemlich deutlich. Völlig durchgefroren musste erst einmal wieder Wärme erzeugt werden – acht junge Leute, die größte Ansammlung an Menschen, die ich an diesem Tag gesehen hatte, kamen gerade die Innere Bahnhofsstraße herunter. Doch hätten mich in diesem Moment nur gut wärmende Argumente halten können, nach dem Woher oder Wohin zu fragen. Erst als ich in Cranzahl in einer Gaststätte wieder für den notwendigen wärmenden Körperinnendruck gesorgt hatte, kam mir der Gedanke, dass diese Jungs wohl gerade wieder zum Lokschuppen unterwegs waren, denn Einheimische hatten doch bei diesem Wetter bestimmt keine Veranlassung, im Rudel durch Jöhstadt zu streifen.
Die Heimfahrt von Cranzahl nach Dresden war fast wie im Fluge herum. Die Gedanken kreisten um das Gesehene und um die Aussichten, aber auch um den Reiz eines solchen Vorhabens. Nikolai Ostrowski hatte seinen Buchhelden Pawel Kortschagin ja auch nicht bei Sonnenschein und Modellbahnbedingungen an einer Schmalspurbahn arbeiten lassen. (*).
Betrachte ich heute rückblickend den Herbst 1990, so hat er für mich über die politischen Veränderungen hinaus eine sehr einschneidende Wirkung gebracht. Vor 25 Jahren lernte ich eine nicht mehr existente Schmalspurbahn kennen und sie ließ mich dann einfach nicht mehr los …
(*) Anmerkung des Autors: Das Buch „Wie der Stahl gehärtet wurde“ von Nikolai Ostrowski war Pflichtlesestoff während der Schulzeit in der DDR. Neben der Vermittlung der ideologischen Zielstellung des sozialistischen Realismus besteht ein interessanter Teil des Buches aus sehr plastischen Schilderungen vom Bau einer Schmalspurbahn.
14.12.2015