Schmalspurbahn-Geschichte
Rückblick auf das Jahr 1990 - Teil 1: Nachwendeerlebnisse eines „Wessis“
Einleitung
Im Editorial der Ausgabe 1/2015 (PK 142) wurde schon avisiert, dass ein Schwerpunkt der Berichterstattung in diesem Jahr auf einem Rückblick zur Situation der Schmalspurbahnen gegen Ende der DDR liegen soll. Vor 25 Jahren setzte mit den politischen Veränderungen vom Herbst 1989, der Volkskammerwahl am 18. März 1990 und der Einführung der D-Mark zum 1. Juli 1990 eine gravierende Veränderung der Lebensverhältnisse der Menschen in der damaligen DDR ein, die mit der Realisierung der Deutschen Einheit per Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland zum 3. Oktober 1990 vielfach eine komplett neue Richtung nahm. Aus Sicht der dampfbetriebenen Schmalspurbahnen entwickelte sich diese Zeit zu einer Periode „auf Messers Schneide“. Durch den personalintensiven Betrieb mit Dampflokomotiven konnte von einem eigenwirtschaftlichen und kostendeckenden Betrieb keine Rede sein. Außer den beiden Bahnen an der Ostseeküste „Molli“ und „Rasender Roland“, die bereits zu DDR-Zeiten ganz intensiv als Bestandteil der touristischen Landschaft gesehen und genutzt wurden, fehlte diese Hauptorientierung bei den sächsischen Strecken und den Bahnen im Harz in dieser deutlichen Ausprägung. Vielfach machte der Güterverkehr noch immer einen großen Umfang des Transportaufkommens aus. Nach der PK-Ausgabe 1/2015 erreichten die Redaktion bereits erste Leserzuschriften, die dieses Thema aufgriffen. Weitere Erlebnisberichte und Bildzeugnisse sind deshalb herzlich willkommen – besonders weil eigene Erlebnisse auch immer aus der Perspektive der eigenen Erwartungshaltung gesehen werden.
Schmalspurbahn-Nachwendeerlebnisse 1990
Von Henning Struckmann, Ottersberg
Bereits seit 1980 hatte ich als Fan dampfgeführter Züge auf allen Spurweiten Gelegenheit, als „Neffe“ lieber Freunde aus Sachsen zu Reisen in die DDR eingeladen zu werden. So konnte ich den auslaufenden Dampfbetrieb bei der Deutschen Reichsbahn südlich einer Linie Magdeburg – Berlin – Görlitz in den Jahren bis zur Wende sporadisch selbst erleben, war in diesem Zusammenhang u. a. auch noch rechtzeitig im Preßnitztal, um dort die komplette Strecke abzufahren, aber später leider auch, um dort den Abbauzug zu beobachten.
1988 verblasste dann aber mit Ende des Regelspurdampfes der Reiz von Eisenbahnreisen in die DDR bei mir, lediglich der Betrieb bei den Schmalspurbahnen in Cranzahl, Radebeul Ost und Freital-Hainsberg lockte mich im Mai 1989 nochmals in die Bezirke Karl-Marx-Stadt und Dresden (heute Sachsen). Nichts deutete für mich zu dieser Zeit auf die anstehenden politischen Umwälzungen in der DDR hin. Eher zufällig buchten wir arglos für Mitte November 1989 einen Wanderurlaub grenznah in Hohegeiß im Westharz, von wo die Tieftonpfeifen der Harzquerbahnloks bei Benneckenstein jenseits der Grenze übrigens gut zu hören waren. Doch plötzlich war es passiert – die DDR hatte am 9. November die Grenze geöffnet, auch im Harz wurde der Grenzzaun an zahlreichen Stellen passierbar und provisorische Schotterwege zur nächsten Ortschaft angelegt. Die DDR-Bevölkerung strömte mit Einkaufsbeuteln bewaffnet in die westlichen Nachbardörfer, um nach Auszahlung des Begrüßungsgeldes das überschaubare Warenangebot vor Ort aufzukaufen. Wir waren angesichts dieser unglaublichen Begebenheiten ebenfalls emotional sehr berührt und hätten gern im Gegenzug einen Besuch in der östlichen Nachbargemeinde Benneckenstein gemacht – wir als Westler wurden zu diesem Zeitpunkt von den Grenzorganen allerdings freundlich zurückgewiesen … So musste es dann noch bis zum März 1990 dauern, bis ich mit fünf Tagen Resturlaub eine Rundreise in verschiedene Regionen „im Osten“ und zu verschiedenen Schmalspurzielen machen konnte, die bis dahin für mich noch unerreichbar geblieben waren. Im März 1990 war in der DDR zwar noch die Mark der DDR gültig, die D-Mark jedoch schon vielfach verbreitet und akzeptiert. Aber Umfeld, Infrastruktur und Fahrplangestaltung zeugten noch unmittelbar vom zusammenbrechenden sozialistischen System, was für mich einen besonderen Reiz ausübte. Meine Reise führte mich über Schwerin und Wismar (jeweils mit kurzen Stadtbesichtigungen) zunächst nach Kühlungsborn West zum Molli. Der Fahrplan war Anfang 1990 noch unglaublich vielfältig – zwei Zuggarnituren pendelten in engem Takt von morgens 5 Uhr bis abends 22 Uhr. Ich fand ein Privatquartier in unmittelbarer Nähe des Bahnhofes West, so dass die geliebten Dampflokbetriebsgeräusche mich schon zeitig weckten und abends in den Schlaf wiegten – der absolute Traum des Eisenbahnfans! Im Einsatz waren 99 2322-8 und der D-Kuppler 99 2332-7, und zunächst musste natürlich die Strecke mit dem Zug erkundet werden. Das Ambiente war noch absolut urig – den aktuellen Vergleich mit vielen Modernisierungen möchte ich nicht anstellen, schaue aber auch heute weiterhin gern beim Molli vorbei!
Der zweite Tag meiner Reise führte direkt weiter auf die Insel Rügen, denn auch den Rasenden Roland kannte ich noch nicht „live“. In Unkenntnis der Lokumläufe habe ich offenbar nur die frisch untersuchte 99 1784-0 erwischt, bei der Mitfahrt im Zug Putbus – Göhren und zurück kann ich mich an keine Kreuzung mit einem Gegenzug erinnern. So nahm ich mir Zeit für einen Ausflug nach Kap Arkona sowie zum Kaiserstuhl/Stubbenkammer, und verfolgte nachmittags nochmals den Zug ab Sellin bis Serams – wiederum mit 99 1784-0. Wahrscheinlich habe ich die zweite Lok während der Pause im Bw Putbus verpasst; dort einfach so hereinzumarschieren traute ich mich seinerzeit nicht … Rügen ist übrigens heutzutage unser regelmäßiges Urlaubsziel für das Frühjahr geworden, und hier fällt der „Damals & Heute-Vergleich“ umso positiver auf, weil Taktdichte, Fahrzeugangebot und Aktivitäten unter Regie der RüBB doch sehr gewonnen haben. Von Rügen ging es nochmals nach Kühlungsborn West zurück, wo am dritten Tag dann der zweite D-Kuppler 99 2331-9 für die 99 2322-8 in den Plan kam. Per Auto begleitete ich den Zug bis Bad Doberan – die alte Goethestraße und die Passage in Bad Doberan Mitte waren seinerzeit noch original – nach 25 Jahren sieht es hier verständlicherweise etwas anders aus. Nun war ein Ortswechsel in den Harz angesagt, denn endlich waren an der Harzquerbahn auch die Abschnitte im ehemaligen Sperrgebiet zugänglich (Drei Annen Hohne – Elend – Sorge – Benneckenstein). Und noch war der Fahrplan auf der Harzquerbahn sowie im Selketal ohne Einschränkungen gültig, was auch für den Güterverkehr in diversen Abschnitten zutraf.
Es rollte allenthalben auf den Gleisen, auch heute längst abgestellte Neubauloks kamen mir vor die Linse (99 7231-6, 7233-2, 7244-9, 7246-4). Ich übernachtete bei einem langjährigen Eisenbahnfreund in Halberstadt, der mir als Begleiter so manche interessante Fotostelle zeigte. Besonders beeindruckt hat mich seinerzeit der Grenzabschnitt bei Sorge (B242), wo Grenzzaun, Kolonnenweg und Betonmauer parallel zur Trasse verliefen und drohend der Kontrollturm auf dem Hang darüber thronte. Hier zu fotografieren, wäre noch ein halbes Jahr zuvor völlig undenkbar gewesen. Nach einem weiteren Tag zwischen Wernigerode (Güterzugübergabe in Hasserode), Benneckenstein (Lokwechsel am Zug nach Nordhausen), Eisfelder Talmühle (Güterzug Richtung Hasselfelde/Silberhütte), Stiege und Alexisbad (überall nur Neubauloks!) ging es dann mit vielen neuen Impressionen heim gen Bremen. Erfreulicherweise fahren alle im Frühjahr 1990 besuchten Schmalspurbahnen auch heute noch und lohnen den Besuch und die Mitfahrt, wobei teils sogar Streckenkilometer hinzugekommen sind (HSB und RüBB) und der Lokpark erstaunlicherweise noch vielseitiger geworden ist. 1990 war eher ungewiss, welche dieser Schmalspurbahnen überhaupt noch länger überleben würden. Anerkennung daher von mir für alle Visionäre, Betreiber, Aktiven, Geldgeber und Unterstützer in den Entscheidungsgremien, die den heutigen Stand möglich machten!
Höhepunkt des Jahres 1990
Zu einem der prägenden Ereignisse im Frühjahr 1990 und eigentlich dem letzten Höhepunkt der Schmalspurbahnen in der DDR entwickelte sich Ende Mai 1990 das Jubiläumsfest „100 Jahre Zittauer Schmalspurbahn“, bei dem die Reichsbahndirektion Dresden alle Register zog und ein beeindruckendes Fahrzeugaufgebot zur Fahrzeugausstellung nach Zittau in die Oberlausitz brachte. Doch der eigentliche Anlass des Festes erlangte erst dadurch diese Bedeutung, dass die ursprünglich für den 27. Mai 1990 geplante Einstellung des Reiseverkehrs auf der Schmalspurbahn dank Bürgerprotesten gegen den Braunkohletagebau Olbersdorf abgesagt worden war. So konnte am 25. und 26. Mai 1990 ein Eisenbahnfest zwischen Zittau und Oybin bzw. Jonsdorf veranstaltet werden, bei dem zahlreiche Eisenbahnfreunde tatsächlich den Zugang zum Hobby gefunden haben. Diesem Thema wird die Fortsetzung dieses Beitrages in der nächsten Ausgabe des PK gewidmet sein.
Auch die Interessengemeinschaft Preßnitztalbahn hatte übrigens bei dieser Veranstaltung einen dicht umlagerten Informationsstand, bei dem viele Interessierte erstmals vom Gedanken des Wiederaufbaus der Preßnitztalbahn hörten. Jörg Müller
06.04.2015
weitere Artikel zum Thema:
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