Eisenbahn-Geschichte
30 Jahre „Harz-Kamel“ Die Baureihe 199.8 der DR
Anfang der 1980er Jahre musste die Deutsche Reichsbahn (DR) auf der Harzquer- und auf der Selketalbahn noch einen umfangreichen Güterverkehr abwickeln. Durch den geplanten Bau eines Braunkohlenheizkraftwerkes in Silberhütte und durch den Wiederaufbau des im Jahr 1946 demontierten Streckenabschnittes Straßberg – Stiege war mit einem starken Zuwachs des Gütertransports auf den Schmalspurbahnen im Harz zu rechnen. Mit dem vorhandenen Triebfahrzeugbestand sah sich die DR jedoch nicht in der Lage, die anstehenden Zugleistungen effektiv zu erbringen. Nach mehr als 25 Jahren war bei den Neubaudampflokomotiven der Baureihe 9923–24 die vorgesehene Nutzungsdauer überschritten. Risse in den Blechrahmen und den Dampfzylindern, verschlissene Kessel (besonders durch die Ölfeuerung) u. v. a. m. hatten einen hohen Instandhaltungsaufwand und einen großen Schadpark an Dampfloks zur Folge. Deshalb erarbeitete die Reichsbahndirektion (Rbd) Magdeburg einen Plan zur Entwicklung des Triebfahrzeugparkes für das 1000-mm-Schmalspurnetz im Harz. Dieser Plan sah die Ablösung der Dampfloks durch Dieselloks vor. Für Nostalgiefahrten sollten nur noch die Lok 99 6001 und vier Neubauloks der Baureihe 9923–24 betriebsfähig erhalten werden.
Woher nehmen?
Der Neubau von Schmalspurdieselloks durch den einzigen Lokomotivhersteller der DDR – dem VEB Lokomotivbau Elektrotechnische Werke „Hans Beimler“ Hennigsdorf (LEW) – kam nicht in Betracht, da die Werkskapazität durch den Bau von E-Loks ausgeschöpft war. Ein Kauf im nichtsozialistischen Ausland scheiterte an fehlenden Devisen. Im sozialistischen Ausland wollte die DR keine Loks kaufen. Im Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) war Rumänien zuständig für den Bau von dieselhydraulischen Loks. Mit den in Rumänien gebauten Lokomotiven der Baureihe 119 hatte die DR jedoch schlechte Erfahrungen gemacht. So blieb nur der Umbau von Normalspurloks auf Schmalspur.
Durch die Elektrifizierung von regelspurigen Strecken wurden Diesellokomotiven entbehrlich. Nachdem die Entgleisungs- und die Kippsicherheit einer „Schmalspur-V 100“ rechnerisch nachgewiesen waren, beschloss die Hauptverwaltung der Maschinenwirtschaft (HvM) der DR im Sommer 1985 den Umbau von Dieselloks der Baureihe 110 (Typ V 1002) auf Meterspur. Mangels personeller Kapazitäten begann aber erst im Oktober 1987 die aus Fachleuten mehrerer Institutionen und Betriebe gebildete „Arbeitsgruppe „Schmalspurlok 1.000 mm““ mit dem Entwickeln der Konstruktionspläne etc. Am Lokkasten waren nur wenig Änderungen nötig. Die Drehgestelle mussten neu konstruiert werden. Aufgrund der Achsfahrmasse wurden die Drehgestelle dreiachsig ausgeführt.
Vorbereitungen an der Infrastruktur
Parallel zu den Konstruktionsarbeiten wurden infrastrukturseitig die Voraussetzungen für den Einsatz der Dieselloks geschaffen. Dazu gehörte das Herstellen der Profilfreiheit. Auf den Strecken mit Rollwagenverkehr war das Ende 1987 abgeschlossen. Da entlang der Strecken Gernrode – Alexisbad – Silberhütte und Alexisbad – Harzgerode aufwändig Felsen abgetragen werden mussten, war dort die Profilfreiheit erst ab Herbst 1988 gewährleistet.
Der Umbau der Lokomotiven
Nach dem Vorliegen der Konstruktionspläne baute das Reichsbahnausbesserungswerk (Raw) „Fritz Heckert“ Stendal die erste Probelok um. Zum Umbau sah die DR Loks der Baureihe 110 mit 800er Ordnungsnummern vor, da diese zu dem Zeitpunkt die „jüngsten“ verfügbaren V 100 (Baujahre 1976 bis 1978) waren. Die Schmalspur-V 100 ordnete die DR in die Baureihe 199 ein, die Ordnungsnummern der Regelspurlokomotiven behielt sie bei. Somit entstand die Unterbaureihe 1998. Im Zuge des Umbaus erhielten die Lokomotiven Motoren mit 883 kW (1200 PS) und angepasste Strömungsgetriebe.
Die Erprobung der Fahrzeuge
Am 21. November 1988 traf die 199 863-2 in Wernigerode ein. Nach dem Aufsetzen auf die Schmalspurdrehgestelle, einer erster technischen Abnahme und nach Einweisungsfahrten in Wernigerode fand am 10. Dezember 1988 eine Probefahrt nach Stiege einschließlich einer Fahrt durch die dortige Wendeschleife statt. Nachdem am 30. Dezember 1988 die Lok 199 871-5 in Wernigerode angekommen war, standen zwei Lokomotiven für Messfahrten zur Verfügung.
Mit der 199 863-2 fand am 11. Januar 1989 eine Probefahrt auf der Selketalbahn statt, bei der es keine Probleme gab.
Im Dezember 1989 begann das Raw Stendal mit dem Serienumbau. Pro Monat sollten zwei Loks fertiggestellt werden, bis im Januar 1992 ein Bestand von 30 Loks der Baureihe 1998 erreicht sein sollte. Aufgrund der politischen Wende ab Herbst 1989 und dem Einbruch des Güterverkehrs auf den Harzer Schmalspurbahnen korrigierte die Rbd Magdeburg ihre Pläne auf einen Bestand von zehn Loks.
Am 28. Dezember 1989 stellte das Raw die Lok 199 872-3 fertig. Als zehnte und letzte 1998 verließ die Lok 199 892-1 am 21. Dezember 1990 Stendal.
Im Raw Stendal in den Jahren 1988/89 zu C’C’-dh umgebaute V 100:
Lok-Nr. | Baujahr | Fab.-Nr. | aktuelle Spurw. | aktueller Eigentümer |
---|---|---|---|---|
199 861-6 | 1976 | 15379 | 1000 mm | HSB |
199 863-2 | 1976 | 15381 | 1435 mm | Widmer Rail Services AG (WRS), Schweiz |
199 870-7 | 1976 | 15388 | 1435 mm | PRESS (204 010-6) |
199 871-5 | 1976 | 15389 | 1000 mm | HSB |
199 872-3 | 1976 | 15390 | 1000 mm | HSB |
199 874-9 | 1976 | 15392 | 1000 mm | HSB |
199 877-2 | 1978 | 16391 | 1000 mm | HSB |
199 879-8 | 1977 | 16373 | 1435 mm | Ersatzteilspender ADtranz Kassel |
199 891-3 | 1978 | 16385 | 1435 mm | Augsburger Localb. Gesellschaft (AL), Lok 43 |
199 892-1 | 1978 | 16386 | 1000 mm | HSB |
Der Einsatz
Die Absicht, die Dampflokomotiven im Harz nahezu vollständig durch Dieselloks zu ersetzen, stieß bei Eisenbahnfreunden, Touristen und selbst bei Eisenbahnern auf wenig Gegenliebe. Das äußerte sich nach 1989 auch in offiziellen Protesten. Aus Mangel an betriebsfähigen Dampfloks musste die DR Lokomotiven der Baureihe 1998 nicht nur im Güterzug-, sondern auch im Reisezugdienst einsetzen.
Wegen ihrer im Vergleich zu den Schmalspurwagen großen Proportionen, der Farbgebung und des Mittelführerhauses entstand für die Schmalspur-V 100 der Spitzname „Rotes Kamel“, obwohl „Rotes Dromedar“ zutreffender gewesen wäre: Kamele haben zwei Höcker … Eisenbahner nannten sie „Kanne“. Mittlerweile ist der Spitzname „Harz-Kamel“ am meisten verbreitet. Zum 1. Februar 1993 übernahmen die Harzer Schmalspurbahnen GmbH (HSB) von der DR Infrastruktur, Fahrzeuge und die Betriebsführung auf dem Harzer Schmalspurnetz und somit auch die zehn Lokomotiven der Baureihe 1998.
Am 21. August 1994 ereignete sich der schwerste Unfall mit einer solchen Diesellok. Im Thumkuhlental zwischen den Bahnhöfen Drängetal und Steinerne Renne stießen zwei Reisezüge zusammen. Beteiligt waren die Loks 99 7222-5 und 199 892-1. Die Diesellok wurde anschließend nicht repariert. Mit Fristablauf stellte die HSB weitere Maschinen der Baureihe 1998 ab.
In den Jahren 1997/98 ließen die HSB bei ADtranz in Kassel bei den 199 861-6, 199 871-5, 199 872-3 und 199 874-9 eine Hauptuntersuchung durchführen. Dabei wurden die Motoren generalüberholt sowie eine neue Fahr- und Bremssteuerung eingebaut. Diese Loks erhielten außerdem eine Funkfernsteuerung.
Für den Einsatz mit Normalspurwagen auf Rollböcken des Systems „Vevey“ bekamen die 199 872-3 und die 199 874-9 hydraulisch umklappbare Normalspurpuffer.
Im September 1998 verkaufte die HSB die Loks 199 863-2, 199 870-7, 199 879-8 und 199 891-3 an ADtranz. Sie wurden in Kassel in das Umbauprogramm für die Normalspurbaureihe 293 einbezogen.
Von den sechs bei den HSB verbliebenen Loks waren Anfang 2019 die 199 861-6, 199 872-3 und 199 874-9 betriebsfähig. Die 199 861-1 dient hauptsächlich dem Rangierdienst in Wernigerode und bei kurzfristigem Ausfall von Dampfloks oder Triebwagen als Reserve im Reisezugdienst, da sie als einzige 1998 einen funktionstüchtigen Heizkessel besitzt. Die zwei anderen Loks kommen im Arbeitszug- und Schneeräumdienst, mit dem Hilfszug sowie gelegentlich vor Schotterzügen vom Steinbruch Unterberg zum Einsatz.
Die 199 870-7 gelangte in Stendal auf 1435 mm zurückgespurt über die ALSTOM Lokomotiven Service GmbH (ALS) am 21. Juli 2003 an die Eisenbahn-Bau- und Betriebsgesellschaft Pressnitztalbahn mbH (PRESS). Diese setzt sie mit der Nummer 204 010-6 ein.
11.04.2019