Schmalspur- und Museumsbahn-Nachrichten
Gernrode – der „vergessene Bahnhof“
Der Harz gilt heute als Urlaubs- und vor allem als Wanderparadies. Dennoch verdankte die Selketalbahn mehr als 100 Jahre lang ihre Existenz eher dem Güterverkehr: Ohne die Aussicht auf Güterverkehr wäre die Gernrode-Harzgeroder Eisenbahn (GHE) ab 1886 nicht gebaut worden. Ohne die Notwendigkeit des Eisenbahngüterverkehrs wäre die Selketalbahn nach der 1946 als Kriegsentschädigung erfolgten Demontage nicht bis 1950 zwischen Gernrode und Straßberg wiederaufgebaut worden – und ohne die Notwendigkeit für den Güterverkehr wäre auch der Abschnitt Straßberg – Stiege im Jahr 1983 nicht wiederaufgebaut worden. Ende der 1980er Jahre wurde die Selketalbahn sogar für den Einsatz von umgespurten V 100 und Rollwagen mit Regelspurgüterwagen ertüchtigt. Doch nach 1989 brach der Bedarf am Eisenbahngüterverkehr innerhalb weniger Monate weg – seit Anfang der 1990er Jahre findet im Selketal lediglich noch Personenverkehr statt. Aufgrund der Fokussierung von Touristen auf den Brocken, aber auch durch die Fahrplangestaltung der HSB bleiben die Fahrgastzahlen auf der ehemaligen GHE hinter den Möglichkeiten zurück. Durch die Verlängerung der Selketalbahn von Gernrode nach Quedlinburg können Fahrgäste in Richtung Harzgerode oder Stiege/Hasselfelde seit dem 26. Juni 2006 auch in der Fachwerkstadt mit Weltkulturerbestatus ihren Ausflug beginnen. Der Abschnitt Gernrode – Ballenstedt der im Juli 1885 als regelspurige Nebenbahn vollendeten Strecke Quedlinburg – Frose ist demontiert, möglicherweise entsteht darauf in diesem Jahr ein Radweg.
Durch all diese aufgezählten Dinge – den Wegfall des Güterverkehrs, eine vergleichsweise geringe touristische Nutzung sowie die Verlegung des Anfangspunktes der Selketalbahn nach Quedlinburg und den Wegfall der regelspurigen Eisenbahn aus Richtung Ballenstedt/Aschersleben hat der Bahnhof Gernrode nur noch eine geringe Bedeutung.
Bahnhofsteil im Dornröschenschlaf
Der in Wernigerode lebende Eisenbahnfreund Jürgen Steimecke, vor seinem Renteneintritt viele Jahre bei den HSB als Zugführer tätig, reichte beim Preß´-Kurier vor knapp zwei Jahren einen Bericht über den Bahnhof Gernrode ein. Dafür hatte er „Der vergessene Bahnhof“ als Überschrift gewählt.
Im Text schrieb Jürgen Steimecke: „Seit vielen Jahren vom kommunalen Unternehmen der Harzer Schmalspurbahnen GmbH vernachlässigt, existiert er noch heute, der ehemalige Umladebahnhof in Gernrode. Trotz mehrfacher Hinweise unterblieb in den vergangenen Jahren eine Vegetationspflege. Auch eine und wenn nur augenscheinliche Kontrolle der hier abgestellten Fahrzeuge unterblieb hier zum Nutzen der Natur. Durch wilde Müllentsorgung entstand ein weiteres Problem, das durch die Natur jahreszeitlich verdeckt wird.“
Auch andere Eisenbahnfreunde monierten in den vergangenen Jahren häufig in Internetforen, in Gesprächen oder in E-Mails an Redaktionsmitglieder die in Gernrode immer mehr einwachsenden Fahrzeuge. Geändert hatte diese Kritik an den Verhältnissen auf dem ehemaligen Umladebahnhof nichts.
Jürgen Steimecke schloss daher im Sommer 2017 seinen Text über diesen Gernroder Bahnhofsteil mit einem lakonisch formulierten Fazit: „Also ruhig noch ein wenig abwarten, dann ist es soweit: Erst die Motorsägen für den Freischnitt und dann der Schneidbrenner zur Entsorgung.“
Letzter GG der GHE Opfer von Brandstiftung
Vor wenigen Wochen holten Jürgen Steimeckes mahnende Worte, die bisher im PK noch nicht zum Abdruck gekommen waren, die Realität ein: Am 22. März 2019 erreichte die Freiwillige Feuerwerk Quedlinburg 9.54 Uhr ein Feueralarm aus Gernrode. Auf dem Gelände des ehemaligen Umladebahnhofes stand ein gedeckter Güterwagen in Flammen. Diese drohten auf den nebenstehenden Wagen (den KD 905-153 – die Redaktion) überzugreifen. Der Feuerwehreinsatz verhinderte dies, aber die Holzbeplankung sowie das Dach des brennenden Wagens verkohlten indes fast vollständig, die Säulen des Vierachsers glühten durch die Hitze teilweise aus und verzogen sich. Die Bodenbretter, die Rahmenkonstruktion sowie die Drehgestelle nahmen hingegen kaum bzw. keinen Schaden. Wagenfreunde betrachten das als Glück im Unglück, denn beim Brandopfer handelt es sich um den letzten – bis zum 22. März – vollständig erhaltenen vierachsigen gedeckten GHE-Güterwagen. Diese Privatbahn hatte in den Jahren 1905 zehn und im Jahr 1907 nochmals zwei derartige Fahrzeuge von der Waggonfabrik Gebrüder Hofmann & Co. AG aus Breslau bezogen. Die GHE führte die zwölf Vierachser als Gml 88 bis 99.
Da die Selketalbahn unter die Reparationsforderungen der sowjetischen Besatzungsmacht fiel, wurden auch fast alle für 15 t Ladegewicht und damit nach dem DR-Schema innerhalb der Gattung GG zu führenden Güterwagen der GHE in die Sowjetunion abgefahren. Auf dem Gebiet der SBZ verblieben lediglich die Wagen 92 und 93. Als die DR im April 1949 auch die Betriebsführung der NWE und der im Wiederaufbau befindlichen GHE übernommen hatte, wies sie den beiden Wagen 1949 die Nr. 10.491p und 10.492p zu, im Jahr 1957 änderten sich diese Nummer in 99-71-05 und 99-71-06. Während die Rbd Magdeburg letzteren am 19. Mai 1971 ausmusterte und seinen Wagenkasten im Bahnhof Gernrode neben der Feldschmiede als Lagerraum aufstellte (wo er bis heute vorhanden ist), wurde der Schwesterwagen im Jahr 1985 zum Hilfszugwagen des Heimatbahnhofes Nordhausen 99-09-05 umgebaut. Nachdem er dazu nicht mehr benötigt wurde, kam auch dieser GG in den 1990er Jahren auf das Gelände des Umladebahnhofes nach Gernrode. Aus Unkenntnis beschrifteten ihn Eisenbahnfreunde dort als 99-71-06. Mangels jeglicher Erhaltungsarbeiten an den dort abgestellten Fahrzeugen blätterte diese Nummer jedoch Jahr für Jahr mehr ab …
Der Brand und seine Folgen
Nachdem ein westdeutscher Eisenbahnfreund von dem Brand erfahren hatte, veröffentlichte er im Bimmelbahn-Forum am 23. März einen Hinweis auf den Feuerwehreinsatz. Im ihm eigenen Sarkasmus kommentierte er den Brand mit den Worten: „Nachdem die HSB und die Eisenbahnfreunde in Gernrode offenbar erkannt haben, dass der abgestellte Lok- und Wagenpark in Gernrode in seinem vollem Umfang wohl nicht mehr zu halten ist – Geld und Manpower fehlt bekanntlich an allen Ecken und Enden – hat jetzt wohl mit dem thermischen Entsorgen der letzte Trauerakt in Gernrode begonnen.“
Sowohl die Formulierung „thermisches Entsorgen“ als auch die Suggestion, die HSB könnte den Brand selbst gelegt haben, sorgten in den nächsten Tagen für Empörung und Missverständnisse. So bot der niederländische Eisenbahnfreund Wim Pater der HSB an, die in Gernrode abgestellten Wagen zu übernehmen, um ihre „Entsorgung“ zu verhindern.
Nach einigen emotional geführten Diskussionen stellte sich heraus, dass der Güterwagen nicht absichtlich von den HSB angezündet worden war, sondern es sich vermutlich um Brandstiftung von Unbekannten handelt. Die polizeilichen Ermittlungen dauerten zu Redaktionsschluss noch an.
Der ins Visier besorgter Eisenbahnfreunde geratene Freundeskreis Selketalbahn e. V. nutzte die Vorwürfe der Untätigkeit für gezielte Aufforderungen zur Mitarbeit am Erhalt von in Gernrode abgestellten Wagen und warb um Spenden. Was mit dem Wrack des GG wird, ist bisher nicht entschieden bzw. in der Öffentlichkeit noch unbekannt.
11.04.2019