Fahrzeuge im Porträt
Modernisierter Sitzwagen 970-576 der Preßnitztalbahn
Von manchen Schmalspurfreunden werden sie geliebt, andere verleitet ihr Anblick unweigerlich zu Schimpftiraden – die zwischen 1977 und 1992 modernisierten Reisezugwagen auf den 750-mm-Bahnen zwischen Rügen und Fichtelberg. Ein Exemplar der gern auch als schmalspurige „Reko-Wagen“ bezeichneten Fahrzeuge befindet sich seit 2009 im Besitz der IG Preßnitztalbahn e.V. und wird inzwischen regelmäßig in den Museumszügen zwischen Steinbach und Jöhstadt eingesetzt. Hier wird deshalb der Wagen 970-576 im Porträt vorgestellt.
I. Geschichte
Der heute als 970-576 geführte vierachsige Sitzwagen wurde 1926 von der Waggon- und Maschinenfabrik AG vorm. Busch Bautzen gemäß Zeichnung Nr. 38806 gefertigt. Er entsprach damit – wie die übrigen 143 von 1922 bis 1926 im Auftrag der Reichsbahn gebauten Wagen seiner Art – exakt den 95 von 1913/1914 an die K.Sächs.Sts.E.B. gelieferten Traglastenwagen der sächsischen Gattung 729. Die DRG stellte ihn 1926 mit der Betriebsnummer 755K als D4tr in Dienst. Sein nicht selbsttragender Aufbau war vollständig aus Holz gefertigt – ebenso seine 4.-Klasse-Sitzbänke. Derartiges Gestühl kann heute bei der Preßnitztalbahn noch im Wagen 970-583 erlebt werden, der als 744K 1926 vermutlich nur wenige Tage vor dem späteren 970-576 in Bautzen fertiggestellt worden war.
1927 wies die DRG dem bisherigen 755K die Bezeichnung Dresden K1020 zu, welche die DR 1950 in 7.1020 änderte. Zuvor war der 1926 als 4.-Klasse-Wagen in den Bestand aufgenommene Vierachser 1928 in einen Wagen 3. Klasse umgezeichnet worden. Dieser Akt geschah jedoch nur auf dem Papier – bzw. durch Tausch der Klassen-Tafeln am Wagenkasten, denn im Inneren wurden keine Veränderungen vorgenommen. Bei der Bestandsaufnahme des schmalspurigen Fahrzeugparkes der RBD Dresden am 3. Juli 1944 sowie am 4. Mai 1947 wurde der Traglastenwagen jeweils in Wilsdruff registriert. Vom 1. Juli 1948 bis 1954 ist er in Freital-Potschappel, anschließend in Hainsberg nachgewiesen. Durch den Wegfall der bisherigen 1. Klasse rückten 1956 die beiden übrigen Sitzklassen jeweils eine Stufe nach oben, wodurch aus 7.1020 auf dem Papier ein 2.-Klasse-Wagen wurde. Ein Jahr danach erhielt er im Raw Karl-Marx-Stadt elf elektrische Lampen mit 85V/25W.
Ab 1957 zählte der Vierachser zum Wagenbestand der Preßnitztalbahn, wo er 1958 in Wolkenstein seine aktuelle Betriebsnummer 970-576 angeschrieben bekam. Während seines Aufenthaltes im Raw Karl-Marx-Stadt vom 31. Mai bis zum 27. Juni 1963 ersetzten die Beschäftigten des Werkes die äußere Holzbeplankung von 970-576 durch eine Blechverkleidung sowie die 4.-Klasse-Bänke durch Hartpolstersitze. Wagenmeister Klaus Schreyer notierte sich Ende der sechziger Jahre zum 970-576 entsprechend: Gattung KB4trp, 38 Sitzplätze, elektrische Beleuchtung + Gasbeleuchtung, Ofen- sowie Niederdruckumlaufheizung. Im April 1978 gelangte er als erster Reisezugwagen der alten WJ-Linie zur Modernisierung in die Werkabteilung (WA) Perleberg des Raw Wittenberge.
II. Modernisierung
In der Wagenausbesserung Perleberg nahm 970-576 als einer der ersten Schmalspurwagen der Rbd Dresden überhaupt am 1977 aufgenommenen Modernisierungsprogramm der Deutschen Reichsbahn teil. Dabei blieben sowohl sein Dach wie auch sein Fahrwerk von 1926 weitestgehend unverändert, lediglich „dazwischen“ entstand alles neu. Dazu verwendeten die Beschäftigten der WA Perleberg vorgefertigte, 1,50 m breite Segmente, die untereinander sowie am Untergestell verschweißt wurden. Auch die Stirnwände einschließlich der Schiebetüren waren neu angefertigt worden. Danach schraubten die Mitarbeiter das originale Dach an und widmeten sich dem Innenraum.
Als Fenster kamen aus Rationalisierungsgründen 800 mm breite Aluminiumklappfenster zum Einbau, wie sie für die in dieser Zeit gefertigten regelspurigen Doppelstockwagen hergestellt wurden. Da ähnliche Fenster auch das Merkmal der regelspurigen Sitzwagen der Gattung Bghw(e) sind, die innerhalb eines offiziellen Rekonstruktionsprogrammes der Deutschen Reichsbahn entstanden waren, bürgerte sich umgangssprachlich auch für die modernisierten Schmalspurfahrzeuge der Begriff „Reko-Wagen“ ein – korrekt ist das jedoch nicht. Nebenbei – die neuen Fenster waren für viele Fahrgäste ein Grund dafür, die modernisierten Sitzwagen zu meiden: Ein weites Hinauslehnen wie aus den tief zu öffnenden Fenstern der Länderbahnwagen war nunmehr nämlich nicht mehr möglich. Aus heutiger Sicht muß jedoch angemerkt werden – immerhin ließen sie sich überhaupt noch öffnen …
Aufgrund der Wagenkastenlänge erhielten alle modernisierten „Sachsenwagen“ der Gattung 729 pro Seitenwand sechs Fenster, während bei der Modernisierung der „großfenstrigen“ Länderbahnwagen sieben Fenster dieser Art Platz fanden. Die Innenräume wurden mit Sprelacartplatten mit dahinterliegender Wärmedämmung verkleidet.
Anschließend begann der Einbau des Abortes, neu angefertigter Hartpolster-Rohrgestühle, die mit grünem Kunstleder überzogen waren, sowie der Dampfheizung, Lampen und Lüfter. Am 19. Juni 1978 wurde die auf diese Weise ausgeführte Modernisierung von 970-576 in Perleberg abgeschlossen und der Wagen zurück in die Rbd Dresden nach Wolkenstein geschickt.
III. Einsatz als modernisierter Wagen
Als der modernisierte Wagen 970-576 im Sommer 1978 nach Wolkenstein zurückkehrte, war das vermutlich für Reisende wie Eisenbahner auf der WJ-Linie gleichermaßen eine Überraschung. Im Erzgebirge gab es zu diesem Zeitpunkt lediglich den im Frühjahr 1978 von der Modernisierung aus Perleberg zurückgekehrten 970-536. Und bis zur Ankunft des zweiten „Reko-Wagens“ im Preßnitztal (970-588) dauerte es noch zwei Jahre. Mit dem Eintreffen weiterer modernisierter Wagen konnten mehrere verschlissene Altbauwagen endgültig ausgemustert werden – darunter der heute auf der Museumsbahn Steinbach – Jöhstadt eingesetzte „großfenstrige“ 970-365.
Zu den neben 970-576 und 970-588 auf der alten Preßnitztalbahn eingesetzten „Reko-Wagen“ zählten z. B. 970-472, 970-497, 970-529 und 970-598. Sie waren meist in gemischten Garnituren mit den noch vorhandenen Altbauwagen – zu denen übrigens auch die heutigen Jöhstädter Museumswagen 970-559 und 970-628 gehörten – in die bis zum 30. September 1984 verkehrenden Reisezüge eingestellt. 970-576 wurde jedoch bereits am 22. März 1984 von Wolkenstein nach Cranzahl gebracht, wohin ihm bis auf 970-628, der für den Abbauzug im Preßnitztal verblieb, im Oktober 1984 alle übrigen Sitzwagen folgten. Auf der Linie Cranzahl – Oberwiesenthal stand 970-576 bis Mai 2005 im Einsatz. Während seiner dortigen Stationierung erhielt er bei einem Aufenthalt in der WA Perleberg im September/Oktober 1990 eine Druckluftbremsanlage sowie 1993 im Raw Görlitz auf seinen Plattformen neue Heizungskästen.
In Cranzahl erlebte der Reisezugwagen in den folgenden Jahren gleich mehrere Eigentümerwechsel und Umfirmierungen: Kam er per 1. Januar 1994 in den Bestand der DB AG, so wurde er per 1. Juni 1998 in das Eigentum des Landkreises Annaberg überführt, der ihn – wie alle übrigen Fahrzeuge der Fichtelbergbahn – der BVO Bahn GmbH zur Nutzung übergab. Zum Zeitpunkt der Namensänderung in Sächsische Dampfeisenbahngesellschaft mbH (SDG) im Mai 2007 war 970-576 schon zwei Jahre abgestellt. Als sich die IG Preßnitztalbahn e.V. 2008/2009 beim Landkreis intensiv um von der SDG nicht mehr benötigte Altbaufahrzeuge bemühte, kam auch der erste Wolkensteiner „Reko-Wagen“ ins Blickfeld des Vereins.
IV. 970-576 zurück im Preßnitztal
Im Juni 2009 gelang es der IG Preßnitztalbahn e.V., mit dem Erzgebirgskreis und der SDG eine Übereinkunft zu treffen, neben den beiden Altbauwagen 970-507 (bereits seit 2000 in Jöhstadt) und 970-495 auch den modernisierten 970-576 auf der Museumsbahn Steinbach – Jöhstadt langfristig nutzen zu können.
Daraufhin kehrte der erste modernisierte Reisezugwagen der alten Preßnitztalbahn nach 25 Jahren „Abstinenz“ nach Jöhstadt zurück. Hier wurde der aufgrund seiner langen Abstellzeit unansehnliche Vierachser zunächst in Schlössel hinter den Güterwagen abgestellt. Anfang 2010 begann schließlich seine Aufarbeitung für den Fahrbetrieb auf der Museumsbahn. Dabei wurden u. a. notwendige Fristarbeiten ausgeführt. Gleichzeitig erhielt der Wagen eine zusätzliche Hauptluftleitung, so daß er jetzt auch in mit Saugluft gebremste Züge eingestellt werden kann. Zum Abschluß der Aufarbeitung erhielt er einen neuen grünen Anstrich (RAL 6020) sowie die korrekte DR-Beschriftung im Stil der achtziger Jahre.
Wie im Preß’-Kurier 114 berichtet, leisteten die an den Arbeiten beteiligten Frauen und Männer in den Tagen vor Pfingsten 2010 Überdurchschnittliches – mit Erfolg: Nach einer Probefahrt, bei der am 20. Mai keinerlei Mängel festgestellt worden waren, darf 970-576 eingesetzt werden.
Seit Pfingsten 2010 kommt der „Reko-Wagen“ nun regelmäßig in den Museumszügen zwischen Steinbach und Jöhstadt zum Einsatz. Denn auch wenn die modernisierten Schmalspurwagen von einigen Eisenbahnfreunden nicht gemocht werden – auf der Preßnitztalbahn haben sie eine geschichtliche Daseinsberechtigung – eine Geschichte, die eben mit 970-576 im Sommer 1978 ihren Anfang nahm.
06.02.2011