Reisebericht
The Kent & East Sussex Railway
Eine der schönsten englischen Museumseisenbahnen in den Grafschaften Kent und East Sussex
Mit dem Slogan „England’s Finest Rural Light Railway („Englands schönste ländliche Nebenbahn“) wirbt eine außergewöhnliche Museumseisenbahn inmitten der Grafschaften Kent und East Sussex im Südosten Englands. Sie spiegelt den besonderen Reiz der Eisenbahn in der ländlichen Landschaft Südenglands wider – und lädt Eisenbahnfreunde aus der ganzen Welt zu einem Besuch ein.
Im engen Eisenbahnnetz Südenglands
Eine halbe Fahrstunde mit dem Auto westlich von Dover an der A 28 zwischen Hastings und Ashford gelegen, gelangt man in der lieblichen Gartenlandschaft der Grafschaft Kent zur Kleinstadt Tenterden. Die Stadt ist Mitglied des altehrwürdigen maritimen Städtebundes „Cinque Ports“, der im frühen Mittelalter mit seiner Flotte eine wichtige Rolle bei der Verteidigung Englands spielte. Tenterden hatte im frühen Mittelalter einen Zugang zum Meer, da die Romney Marsh — ein Schwemmland − noch nicht urbar gemacht worden war. Die frühere Kent & East Sussex Railway (K&ESR), die die Bezeichnung der zwei von ihr durchschnittenen Grafschaften im Namen trägt, verband die Städte Headcorn an der South Eastern Main Line zwischen London und Dover sowie Robertsbridge an der Bahnlinie London − Brighton und ist zwischen 1900 und 1905 gebaut worden. Am 26. März 1900 eröffnete die Bahngesellschaft den Güterverkehr auf einem ersten Streckenabschnitt, sechs Tage später den Personenverkehr. Damit wurde das enge Netz der Eisenbahnstrecken in Südengland, dessen erste Linien bereits in den 1840er Jahren errichtet worden waren, weitgehend komplettiert. Bekannt wurde die Bahn unter dem Namen ihres Gründers: Colonel Stephens. Sie war eine vornehmlich dem landwirtschaftlichen Güterverkehr dienende Nebenbahnstrecke. Deshalb hieß sie im Volksmund: The Farmers Line. Der Gründer Colonel Stephens betrieb diese Bahn als Gesellschafter bis 1931. Außerdem besaß die Strecke im Zweiten Weltkrieg aufgrund der Truppen- und Materialtransporte für die Verteidigung Englands eine außerordentliche strategische Bedeutung. Sie war eine durchgehend eingleisige Strecke. Nur in den Bahnhöfen und Haltepunkten befanden sich in der Regel zwei Gleise, damit die Züge hier kreuzen konnten. Am 4. Januar 1954 endete der Personenverkehr auf der Strecke − der Verkehrsträgerwechsel schritt in England in Windeseile voran.
Die Bahnlinie, die seit der Verstaatlichung per 1. Januar 1948 durch die British Railways betrieben wurde, erlebte in den folgenden Jahren noch gelegentlichen Güterverkehr, ab 1957 mit Diesellokomotiven der Class 04 betrieben. Noch einmal kehrte am 11. Juni 1961 Personenverkehr auf die Strecke zurück, als der Locomotive Club of Great Britain eine Abschiedsfahrt veranstaltete. Am folgenden Tag wurde die Strecke eingestellt, lediglich ein kurzes Stück bei Robertsbridge wurde als Privatanschlußgleis noch bis zum 1. Januar 1970 betrieben.
Wiedergeburt als Museumsbahn
Im Jahr 1974 erfolgte die Eröffnung eines verbliebenen, bis dahin noch nicht demontierten Streckenabschnittes zwischen Tenterden und Rolvenden als Museumsbahn. Erweiterungen in den Jahren 1977 bis Wittersham Road und 1990 bis Northiam folgten. Der letzte Schritt zum Wiederaufbau der Eisenbahn auf dem alten Bahndamm folgte bis zum Jahr 2000, als Bodiam erreicht wurde. Die Bahn hat seit ihrer Wiedergeburt als Museumsbahn ein wechselvolles Schicksal erfahren - mehrfach waren ernsthafte finanzielle Krisen zu überstehen, die zumeist auch mit ernsthaften Kontroversen unter den beteiligten Freiwilligen einhergingen. 1990 war die Museumsbahn bereits bankrott, konnte sich aber in den vergangenen zwei Jahrzehnten weitgehend stabilisieren. Parallel dazu wurde die Strecke konsequent erneuert, die ursprünglich sehr einfach gebauten Bahnanlagen wurden schrittweise verstärkt und ausgebaut.
Heute ist die Museumsbahn eine beliebte Touristenattraktion im Südosten von England. Sie bietet eine 17 Kilometer lange Fahrt durch ein hügeliges Weideland, die Züge werden meist durch Dampflokomotiven – in Spitzenzeiten aber auch schon mal durch historische Diesellokomotiven – gezogen. Am früheren Endpunkt in Robertsbridge gibt es seit ein paar Jahren weitere Aktivitäten, Anlagen der früheren K&ESR zu erhalten bzw. wieder aufzubauen. Die Museumseisenbahnen Rother Valley Railway in Robertsbridge und die K&ESR planen für die Zukunft den Lückenschluß zwischen Bodiam und Robertsbridge (bestehende Lücke rund 5,3 Kilometer). Damit hätte die K&ESR wieder Anschluß an die Bahnlinie Brighton − London der Southern Railway, was noch mehr Besucher zu beiden Museumseisenbahnen bringen würde, da man dadurch natürlich noch interessantere Angebote unterbreiten könnte. Vor rund zwei Jahren wurden die Arbeiten begonnen, seitdem sind bereits drei Kilometer Gleise verlegt worden. Umfangreiche Arbeiten, wie der notwendige Wiederaufbau einiger Brücken sowie Straßenübergänge an den Staatsstraßen A 21 und B 2244 sowie der Erwerb des Bahndammes von den jetzigen Landeigentümern lassen den Lückenschluß jedoch noch in weite Ferne rücken.
Eine Fahrt auf der Museumsbahnstrecke
Im Bahnhof Tenterden befindet sich die Zentrale der heutigen Museumseisenbahn. Eine Fahrt mit der Bahn in Richtung Bodian ist äußerst interessant, da man während der Tour die östlichen Ausläufer der hügeligen „Wealds“ kennenlernt – einer regional beliebten Ausflugsgegend in den Grafschaften Kent und East Sussex gehört. Eine Fahrt beginnt in Tenterden und führt westlich durch eine sanfte Hügellandschaft. Der Zug wird abwechselnd mit anderen Loks unter anderem von der Dampflokomotive No. 23 „Holman F. Stephens“ aus der A1X-Klasse, gebaut 1952, gezogen. Die ersten Lokomotiven dieser Klasse sind während des Zweiten Weltkrieges entworfen und gebaut worden. Die Wagengarnitur besteht aus 1927 für die Southern Railway gebauten Abteilwagen (Maunsell Carriages) und aus Waggons der British Railway (Mark 1 Carriagesdes Baujahres 1950.
Nach dem Verlassen des Bahnhofes Tenterden erreicht der Zug nach etwa sieben Minuten Fahrzeit die Station Rolvenden. Hier sind auf Nebengleisen reparaturbedürftige Lokomotiven und Waggons abgestellt, die für eine künftige Aufarbeitung oder als Ersatzteilspender aufbewahrt werden. In Rolvenden befindet sich auch eine Reparaturwerkstatt der K&ESR. Nach einem kurzen Halt geht es weiter in Richtung Wittersham Road Station. Vorbei an einer ehemaligen Flußkrebsfarm passiert man den Gazedown Wood zur Linken. Es ist eines der ältesten Waldgebiete Englands, das schon im Jahre 1067 William der Eroberer seinem Halbbruder, dem Bischof von Bayeaux, zum Geschenk machte. Bis vor kurzem ist es als Aufzuchtgebiet für Wildschweine genutzt worden. Parallel zu den Gleisen verläuft der Oxney Straight, ein der Entwässerung dienender Wasserlauf. Gleich darauf erreicht man die Station Wittersham Road. Das gleichnamige Dorf befindet sich aber vier Kilometer entfernt. Während des Zweiten Weltkrieges war hier ein schweres Eisenbahngeschütz stationiert, welches einmalig eingesetzt, alle Fensterscheiben der Station zerstörte. Das Bahnhofsgebäude ist in den 1950er Jahren aber abgerissen worden. Das jetzige Gebäude stammt von der Station Borth in der Nähe von Abeiystwyth in Wales. Nach kurzem Halt in Wittersham Road Station muß der Zug einen kurzen Anstieg meistern. Er fährt nun durch Marschland, wobei der Fluß Rother mehrfach gekreuzt wird. Nach 24 Minuten Fahrzeit erreichen wir Northiam Station. Wir haben nun die Grafschaft Kent verlassen und sind in der Grafschaft East Sussex. Der Bahnhof ist rund eine Meile (1,6 km) vom gleichnamigen Ort entfernt. Er besitzt einen Bahnsteig und ein zweites Gleis zum Umsetzen der Lokomotiven bzw. zum Kreuzen der Züge.
Der Zug fährt nun weiter durch das Niederungsgebiet am Rande einer hügeligen Landschaft und erreicht bei Great Dixter eine wunderschöne Gartenlandschaft, die unbeschränkt öffentlich zugänglich ist. Bei Mill Ditch, einem Entwässerungsgraben, durchfährt die Bahn ihren tiefsten Punkt. Nach einer prägnanten Linksbogens, genannt Padghams Curve, taucht nach insgesamt 53 Minuten Fahrzeit zur Rechten das heute vom National Trust unterhaltenen Bodiam Castle auf. Der Haltepunkt Bodiam mit einem Bahnsteig und einem Überholgleis ist der derzeitige Endpunkt der Kent & East Sussex Railway und lädt damit natürlich zu einem Besuch der markanten Anlage ein. Bodiam Castle hat die Form einer quadratischen Festung mit vier runden Ecktürmen. Erbaut wurde die Burganlage im 14. Jahrhundert und gehört seit 1925 dem National Trust, der dieses mittelalterliche Kleinod als Treuhänder verwaltet und als ein Besuchermagnet im Süden Englands pflegt.
Fahrzeugpark
Zum Lokomotivpark der heutigen K&ESR gehören zahlreiche Dampflokomotiven, die früher vornehmlich auf Nebenstrecken verkehrten. Viele sind sogenannte „Satteltanklokomotiven“, deren Wasserkästen sich über oder zu beiden Seiten des Kessels wölbten. Andere Dampflokomotiven gehören zur sogenannten „Terrier-Klasse“. Die älteste Dampflok im Bestand, die No. 3 „Bodiam“, ist 1872 gebaut worden. Weitere Loks, die häufig im Einsatz sind, sind die No. 753 aus dem Jahr 1909, gebaut in Ashford; die Schlepptenderlokomotive No. 19 „Norwegian“ „(1’C, Class 21c), 1919 gebaut von der schwedischen Firma Nydquist and Holm für die norwegische Staatsbahn, sowie die No. 32678 „Knowle“ aus dem Jahr 1880. Außerdem verfügt die K&ESR über einen einsatzfähigen Dieseltriebwagen (Class 108), der 1958 bei Derby Works gebaut worden ist. Der Wagenpark der Kent & East Sussex Railway ist sehr vielfältig. Er besteht aus Abteilwagen, die zwischen 1887 und 1910 für verschiedene Eisenbahngesellschaften Englands hergestellt worden sind. Mehrere Waggons, die zwischen 1950 und 1964 für die British Railway gebaut wurden und einige Güterwagen aus den 1930er Jahren komplettieren den Wagenpark. Besonders bemerkenswert ist aber ein Salonwagen aus dem Jahr 1890
Besondere Angebote der Museumsbahn
Neben der Wagenreparaturhalle und dem Stationsgebäudes in Tenterden befindet sich ein Museum, das an den Gründer der Bahn, Colonel H. F. Stephens, erinnert, der die Geschicke der Bahn von 1900 bis 1931 leitete. Es ist eine bemerkenswerte Sammlung von zum Teil sehr persönlichen Gegenständen, die die großen Zeiten der englischen Eisenbahnen wieder aufleben lassen. So spiegelt das Interieur des Büros den Geist jener Zeit authentisch wider. Der Fahrplan der Kent & East Sussex Railway ist vornehmlich auf den Wochenendbetrieb ausgerichtet. Auch in den Schulferien findet ein regelmäßiger Verkehr statt. Dann fahren zwischen Tenterden und Bodiam täglich zwischen vier und fünf Zugpaare, wobei es in Northian zu Zugkreuzungen kommt. Regelmäßig finden auch Sonderfahrten statt, die oft in Bezug zu speziellen Feiertagen stehen. „The Wealden Pullman“ ist der Name eines speziellen Zuges, der nur aus 1926 gebauten Gesellschafts-Speisewagen besteht. Die Waggons befuhren einst unter anderem als „Golden Arrow Express“ die Strecke London−Paris (mit Fährüberfahrt). Diese Züge fahren nach einem gesonderten Fahrplan und können von Gesellschaften gemietet werden. Ein anderer Höhepunkt nennt sich „Fish & Chips Specials“. In diesen zu bestimmten Fahrtagen verkehrenden Zügen wird das traditionelle englische Gericht serviert, das aus gebackenem Fisch und fritierten Kartoffelspalten besteht. Besonders beliebt bei Jung und Alt sind aber auch die Sonderfahrten vor und während der Weihnachtszeit, die „Santa Specials“. Jedes Jahr im Mai findet das „1940s Weekend“ statt. Für Deutsche mutet es eher seltsam an, wenn Erwachsene die Zeit der 1940er Jahre wiederaufleben lassen, in Militäruniformen erscheinen und dabei ehemaliges Kriegsgerät zur Schau gestellt wird. Einen besonderen Bezug hatte die Bahn zu Hopfenanbau und -ernte in diesem Teil Südenglands. Jedes Jahr im September kamen die Hopfenpflücker, meistens Frauen und Kinder, in diese Gegend und blieben vier bis fünf Wochen. „Hoppers Friends Trains“ wurden eingesetzt, damit die Männer ihre Familien am Wochenende besuchen konnten. Mit den Veränderungen in der englischen Brautechnik in den frühen 70er Jahren des letzten Jahrhunderts ging auch diese Tradition zu Ende. Seit die Züge wieder bis Bodiam fahren, finden jedes Jahr an mehreren Septemberwochenenden wieder spezielle „Hopper Weekends“ statt.
Eine Fahrt mit der Kent & East Sussex Railway ist ein außerordentliches Ereignis und gehört für jeden eisenbahninteressierten „Kontinentaleuropäer“ während eines Besuches Südenglands zum unbedingten „Muß“, spürt man doch hier den Hauch einer großen Technikgeschichte. Außerdem bieten die Bahnen besondere Anregungen, mit welchen Mitteln und Ideen man auch in Deutschland weitere Gäste zu den Museumsbahnen locken könnte, ohne die eigene Identität der Strecke aufzugeben. Wir haben die Fahrt mit dieser Museumseisenbahn sehr genossen. Den vielen fleißigen Helfern dieser Bahn zollen wir Dank und Anerkennung für ihr Engagement. Bericht: Hans-Joachim Kress, Halle (Saale), November 2010, Fotos: Elke Kress
*Redaktionell bearbeitet und ergänzt unter Nutzung des Wikipedia-Artikels: Kent and East Sussex Railway http://en.wikipedia.org/w/index.php?oldid=407793170, Karte: KentAndEastSussexRailway(Michael Wilmore)Oct2005.jpg Source: http://en.wikipedia.org, Stand 30. Januar 2011
06.02.2011