Schmalspurbahn-Geschichte
Rückblick auf das Jahr 1990 - Teil 2: 100 Jahre Zittauer Schmalspurbahn – Festwochenende 26./27. Mai 1990
Nach außen hin schienen die ersten Monate des Jahres 1990 die Deutsche Reichsbahn wenig verändert zu haben. Doch tatsächlich vollzog sich in dieser Zeit ein fundamentaler Wandel. Die Angst, des Jahres 1989, den bisherigen Kollegen beim nächsten Schichtwechsel nicht mehr wieder zu sehen, da er eventuell in der Prager Botschaft oder direkt durch die geöffnete Grenze von Ungarn nach Österreich den Ausweg aus dem bisherigen Lebensumfeld gesucht hatte, bestand nun nicht mehr. Dafür hatte der grenzüberschreitende Eisenbahnverkehr „in den Westen“ schnell Material und Personal an die Verschleißgrenzen gebracht. Selbst die Schmalspurbahnen waren davon betroffen, da die Personalverantwortlichen überall nach Reserven grasten, die plötzlich angestiegenen Zugleistungen zu bewältigen.
Doch noch bevor die D-Mark ins Land kam, stand ein besonderes Ereignis im Blickpunkt der Eisenbahnfreunde, dem wir den Rückblick auf das Jahr 1990 in dieser Ausgabe widmen.
Von Joachim Jehmlich, Dresden
In der absoluten Gewissheit, dass der Personenverkehr im darauffolgenden Jahr eingestellt werden würde, reisten mein Cousin und ich am 18. Juli 1989 noch einmal zur Zittauer Schmalspurbahn. Der Energiehunger in der DDR ließ nicht erwarten, dass sich an der Ausbreitung des Braunkohletagebaus in Olbersdorf noch etwas ändern würde. Zu dem Zeitpunkt war der Termin der Stilllegung der Bahn direkt im Anschluss an das geplante Festwochenende zum 100. Jubiläum am 26. und 27. Mai 1990 längst beschlossene Sache. Lediglich der Güterverkehr bis Olbersdorf Oberdorf sollte noch zwei weitere Jahre aufrecht erhalten werden. Dies führte natürlich zu etlichen Spekulationen unter den Eisenbahnfreunden zum wahren Grund der von der Deutschen Reichsbahn vorangetriebenen schnellen Stilllegung der Bahn, weil eine transparente Informationspolitik nicht zum Stil von Staat und DR gehörte. Bei unserer Fahrt mit der Zittauer Schmalspurbahn im Sommer 1989 konnten wir den fortgeschrittenen Verschleiß der Bahn feststellen und auch der Frust und die Hoffnungslosigkeit bei einigen Eisenbahnern und Eisenbahnerinnen war deutlich zu spüren. In Erinnerung ist mir ein Gespräch mit der Fahrkartenverkäuferin am Schalter im Bahnhof Bertsdorf geblieben, indem sie uns, den Tränen nahe, ihre Zukunftsängste schilderte. Der Umgang der Deutschen Reichsbahn mit dem eigenen Personal hatte mich damals ziemlich schockiert. Durch die friedliche Revolution im Herbst 1989 gab es jedoch auch für die Zittauer Schmalspurbahn die Hoffnung einer neuen Perspektive, die Bevölkerung machte das zu einem ihrer wichtigsten Themen in der Wendezeit.
Der Eisenbahn-Kurier schrieb dazu in seiner Ausgabe 1/1990: „Das zunehmende Selbstbewußtsein der Bürger zeigt auch in der Oberlausitz Erfolg. Einer örtlichen Bürgerinitiative ist es zu verdanken, daß die geplanten Stillegungstermine der Schmalspurbahn geplatzt sind. Der Abriß weiterer Ortsteile aufgrund des Braunkohleabbaus, die Umlegung der Strecke oder gar ein Neubau als Straßenbahn werden jetzt als nicht wirtschaftlich vertretbar erkannt. Für fünf Jahre ist der Weiterbetrieb der beliebten Schmalspurbahn gesichert.
Damit ändern sich auch die Planungen im Lokeinsatz. Um der Knappheit an Loks der Baureihe 99.17 zu entgehen, wird die Stillegung der Strecke Radebeul Ost – Radeburg immer wahrscheinlicher. Der Traditionsbetrieb würde dann zur benachbarten Strecke Freital Hainsberg – Kipsdorf verlagert.“
Der zweite Absatz dieser Meldung gehört inhaltlich zu den vielen Kuriositäten des Jahres 1990. Vom „ausgefallenen Aus“ der Strecke zusätzlich motiviert, fuhren wir also am 26. Mai 1990 voll Freude über den zumindest vorläufigen Erhalt der Zittauer Schmalspurbahn mit dem Zug ins Zittauer Gebirge. Unsere Fahrkarte lösten wir in Dresden-Neustadt bis Bertsdorf. In Zittau angekommen, inspizierten wir erst einmal das Festgelände, welches sich auf dem östlichen Bahnhofsareal zwischen dem Kopfbahnsteig und den Bahnsteiggleisen der Zittauer Schmalspurbahn befand. Am östlichen Kopfbahnsteig (Gleis 50) waren die Loks 75 515, 86 001, 65 1008-5, 58 261, 38 205, 100 367-1 und ein Schneepflug der Bauart „Meiningen“ ausgestellt. 52 8195-1 stand vom selben Bahnsteig aus für Führerstandmitfahrten zur Verfügung. An der Güterrampe zur Schmalspurbahn gab es die Diesellok 118 652-7 (Gleis 52), die Ellok 243 220-1 (Gleis 53) und die 94 2105 (Gleis 53a) zu sehen. Unmittelbar daneben auf der gegenüberliegenden Seite der Rampe (Gleis 21 der Schmalspurbahn), wo heute der Fotogüterzug steht, waren ein SKL, die 99 1759-2, der Triebwagen 137 322, die 99 713 und die zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr betriebsfähige 99 4532-0 mit einem aufgerollten Gbs-Wagen ausgestellt. Der Triebwagen hatte seit vielen Jahren erstmals wieder seinen Platz im Bertsdorfer Lokschuppen verlassen. Den Einsatz der 99 713 auf der Strecke verhinderte der schlechte Oberbau. Von der Güterrampe aus beschallte ein Robur der Nationalen Volksarmee das Festgelände. Außerdem präsentierten sich in Zittau auch diverse westdeutsche Eisenbahnverlage. Mit der großzügigen Verteilung von Freiexemplaren ihrer Zeitschriften und den Verkauf ihrer Druckerzeugnisse für Ost-Mark warben sie um neue Leser für die Zeit nach der Währungsunion. Die Schmalspurbahn fuhr nach einem Sonderfahrplan in dichter Zugfolge ins Zittauer Gebirge. Dabei kam unter anderem auch die Traditionszuggarnitur mit der IV K Nr. 132 aus Radebeul zum Einsatz, die nach Zittau transportiert worden war.
Auch wir nutzten den Zug, um zum Festgelände in Bertsdorf zu gelangen. Dieser wurde von der Zittauer 99 1731-1 geführt, geschmückt mit einer Sachsenfahne an der Rauchkammer mit der Aufschrift „100 Jahre ZOJE“ und kleinen Deutschlandfähnchen an den Lampen. Noch wenige Monate vorher undenkbar, wollte das Personal der Lok mit diesem Fahnenschmuck ihre Wünsche nach der Wiedergründung des Freistaates Sachsen und schnellen Wiedervereinigung Deutschlands zum Ausdruck bringen. Welche Auswirkung die bevorstehenden politischen Veränderungen auf die sächsischen Schmalspurbahnen haben würden, konnte damals kaum einer ahnen. Ich glaube, bei fast allen Festbesuchern überwog damals die Freude über den Erhalt der Zittauer Schmalspurbahn und über die neuen politischen Freiheiten. Dies gab dem Fest eine ganz besondere Atmosphäre, wie sie nur 1990 denkbar war. In Bertsdorf angekommen, gab es für mich auch eine allererste Begegnung mit der Interessengemeinschaft Preßnitztalbahn. Am Stand in der Nähe des Bertsdorfer Lokschuppens gab es Informationsmaterial und eine Unterschriftenaktion für den kompletten Wiederaufbau der Preßnitztalbahn, an der wir uns auch beteiligten, obwohl wir dieses Ziel für wenig realistisch hielten. Allerdings wurde im ebenfalls am Stand erhältlichen „Informationsblatt der Interessengemeinschaft Preßnitztalbahn“ unter Punkt 2 als eines der Vorhaben und Ziele der IG, der Aufbau einer Museumsbahn zwischen Jöhstadt und Schmalzgrube mit eventuellen Erweiterungsoptionen formuliert. Die Rückfahrt nach Zittau unterbrachen wir mehrmals zum Fotografieren. Nach einem weiteren Bummel über das Festgelände in Zittau traten wir nach diesem erlebnisreichen Tag die Heimfahrt nach Dresden an. Mit im Gepäck hatte ich einige in Zittau erstandene Zeitschriften und das Informationsblatt der IG Preßnitztalbahn. Die Idee einer Museumsbahn im Erzgebirge gefiel mir sehr gut. Es sollte aber noch bis 1996 dauern, bis ich Mitglied in der IG Preßnitztalbahn wurde. Aber das ist dann schon wieder eine andere Geschichte.
Den nächsten Teil unseres Rückblicks auf das Jahr 1990 widmen wir dem Baugeschehen und den Gleisbaufahrzeugen auf den Schmalspurbahnen.
07.06.2015
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