Fahrzeuge im Porträt
Preußischer Regelspurwagenkasten in Wüstenbrand geborgen
Im vorigen Jahr bot eine Familie ihr im sächsischen Wüstenbrand stehendes „Ferienhaus“ über ein Internet-Auktionshaus zum Kauf an. Schon damals war bekannt, dass es sich dabei um den umbauten Kasten des 1891 von der Firma Herbrand in Köln gebauten Regelspur-Personenwagens „Dresden 50038“ handelt, den die RBD Dresden 1931 für eine private Nachnutzung verkauft hatte. Am 6. März 2021 erreichte dieser Wagenkasten seinen neuen Standplatz auf dem privaten Grundstück eines Eisenbahnfreundes aus dem thüringischen Gräfenroda – hier diese Geschichte im Detail:
Die Königlich Preußischen Staatseisenbahnen beschafften ab 1883 bei verschiedenen Waggonfabriken im Deutschen Reich zweiachsige Personenwagen 4. Klasse mit offenen Perrons, einem Radsatzstand von 5,50 m, mit einem nicht von Stirnwand zu Stirnwand reichenden Oberlichtdachaufsatz sowie mit je vier schmalen Fenstern pro Seitenwand. Diese gemäß preußischem Musterblatt I 3 gefertigten Fahrzeuge mit einer Gesamtlänge von 10,80 m bauten auf älteren Wagen ähnlicher Bauart auf. Die Wagen dieser Bauart führte die DRG nach Abschaffung der 4. Klasse (1928) auf dem betreffenden Skizzenblatt als Citr Pr 83. Davon entstanden die letzten Exemplare 1891, doch noch im gleichen Jahr gab es geringfügig abweichende Wagen nach Musterblatt I.8, für welche die DRG das Skizzenblatt Citr Pr 91 anlegte. Zu den Herstellern der Zweiachser gehörten die Firmen Thielemann, Eggena & Cie in Kassel, van der Zypen & Charlier in Köln, Killing & Sohn in Hagen und die Görlitzer Actiengesellschaft für Fabrikation von Eisenbahnmaterial zu Görlitz. Zum Einsatz kamen Wagen dieser Bauart in vermutlich allen preußischen Eisenbahndirektionen, nach 1920 dann auch zum Beispiel in Sachsen. Dazu gehörte der 1891 von der Waggon-Fabrik Actien-Gesellschaft vorm. P. Herbrand & Co. in Köln-Ehrenfeld gemäß Musterblatt I 3 für die KED Breslau gebaute Wagen, der 1923 die Betriebsnummer „Breslau 50139“ zugewiesen bekam. Vermutlich Mitte/Ende der 1920er Jahre wechselte der Zweiachser in die RBD Dresden. Von dieser erhielt er die Nummer „Dresden 50038“. Im 1931 abgeschlossenen nächsten Umzeichnungsplan für die regelspurigen Reichbahnwagen war für das gemäß Skizzenblatt Citr Pr 83 gebaute Fahrzeug die Nummer „88117 Dresden“ vorgesehen. Doch zu einer erneuten Umzeichnung kam es nicht mehr. Da auch die RBD Dresden in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre zahlreiche neugebaute zweiachsige Personenwagen erhalten hatte, schieden immer mehr vor 1900 gebaute Plattformwagen aus, so auch mindesten fünf weitere in der RBD Dresden beheimate Citr Pr 83, die aus der RBD Breslau stammten. Doch die noch immer stabilen Aufbauten ausgemusterter Fahrzeuge wurden nicht abgewrackt und verschrottet, sondern meist für eine stationäre Nachnutzung an Reichsbahndienststellen oder Privatleute abgegeben. Den Wagen 50038 verkaufte die RBD Dresden im Herbst 1931 vom Standort Chemnitz Hbf für 395,– Reichsmark ohne seine Radsätze an die dreiköpfige Familie Noack nach Wüstenbrand.
Nutzung des Wagenkastens in Wüstenbrand:
Familie Noack nutzte das mit zwei Zwischenwänden versehene Fahrzeug zunächst als Küche, Wohnzimmer und Schlafzimmer. Eine Stirnseite wurde nach Entfernen des Plattformgeländers verlängert, um einen kleinen Flur und einen Abort anzubauen. Die andere Stirnseite umbauten die Noacks, wodurch ein kleiner Abstellraum in Größe des Perrons entstand. Auf dieser Seite blieben die Wagentür und ein Klappsitz erhalten. Das Wagendach samt Oberlichtaufsatz schützte ab 1933 ein aufgesetztes Satteldach, dabei entstand ein Dachboden. Die originalen Wagenfenster konnten mit Fensterläden verschlossen werden. Ende der 1980er Jahre ließ Familie Noack die Plattformen massiv ummauern, da die vorhandenen Holzverkleidungen morsch geworden waren. In den vergangenen Jahren diente das so entstandene Haus als Ferienwohnung. Nun soll auf dem Gartengrundstück ein Einfamilienhaus entstehen – an dem umbauten Eisenbahnwagen bestand seitens der Familie Noack kein Bedarf mehr. Verantwortungsbewusst traten die Eigentümer mit dem Verkehrsmuseum Dresden und verschiedenen Eisenbahnvereinen in Kontakt. Doch niemand zeigte ernsthaftes Interesse an einer Übernahme des Kastens. Dieser stand mehrere Monate im Internet zum Kauf bereit.
Retter aus Thüringen
Im Herbst 2020 wurde ein Eisenbahnfreund aus Gräfenroda auf das Objekt aufmerksam. Nach einer ersten Besichtigung im November 2020 entschied er sich zum Kauf. Zuvor waren der Wagenkasten freizulegen und der Transport zu organisieren. Ein Befahren des Gartens mit einem Schwerlastkran schied aus, so wurde der Kasten am 4. Februar 2021 mit einem Bergekran auf Baumstämmen vom Grundstück gerollt und auf einen Tieflader eines Unternehmens mit Sitz in Ilmenau verladen. Am 5. Februar setzte ein Kran den Aufbau in Gräfenroda zwar ab, doch bis zum heutigen Standplatz musste der Kasten erneut mit einer Eisenbahnwinde sowie mit einem Kettenratschenzug auf Rollen und Blechen per Hand bugsiert werden. Das war am genannten 6. März geschafft. Nach einer äußerlichen Aufarbeitung möchte der neue Eigentümer den Wagenkasten als Gartenhütte nutzen. Dazu sollen die Wände wieder verkleidet, aber die alte Substanz erhalten und lediglich verdeckt werden, auf den Oberlichtdachaufbau warten neue Scheiben. Außerdem möchte der neue Eigentümer versuchen, die Perrongeländer zu rekonstruieren, damit der Wagen ein stimmiges Gesamtbild erzeugt.
Museale Komponente
Bei Museen oder Museumsbahnen sind weder Wagen der Gattung Citr Pr 83 noch Exemplare der Nachfolge-Gattung Citr Pr 91 erhalten. Identisch verhält es sich mit den an verschiedene deutsche Privatbahnen gelieferten Wagen dieser Bauart sowie mit den in ähnlicher Form für die K.Sächs.Sts.E.B. gebauten Fahrzeugen. Letztere waren im bildlichen Verzeichnis der Wagen der K.Sächs.Sts.E.B. ab 1899 auf dem Blatt lfd. Nr. 185 aufgelistet. Allerdings gibt es bei Magdeburg am Standort Loburg der Dampfzug-Betriebs-Gemeinschaft e. V. einen Anfang der 1880er Jahre nach Blatt 3 der Normalien von 1878 gefertigten Di, dessen Fensterunterkanten jedoch höher als bei den Citr Pr 83 und Citr Pr 91 angeordnet sind. Der Kasten dieses heutigen Museumsfahrzeuges diente bereits bei Magdeburg als Schuppen, ehe er 1994 vom genannten Verein geborgen und mit dem Untergestell eines 1894 gebauten Wagens der Bühlertalbahn (Bühl [Baden] – Oberbühlertal) reaktiviert wurde.
Der Kasten eines nicht identifizierten Exemplars aus einer der vier zuvor aufgezählten Gruppen stand bis etwa 1987 neben dem Wasserhaus in Steinbach an der Preßnitztalbahn.
Einen ähnlichen Wagenkasten kennen viele Wagenfreunde auch noch vom Abschnitt Aue – Blauenthal der CA-Linie. Dort stand solch ein Kasten bei Bockau als Schuppen – auch dieser ist jedoch inzwischen zerlegt. Ob es noch einen weiteren Kasten dieser Art außer dem nun in Gräfenroda aufgestellten gibt, ist zumindest der PK-Redaktion und den von ihr befragten Wagenexperten unbekannt. Womöglich handelt es sich mit dem ehemals Wüstenbrander Exemplar damit um den letzten Vertreter einer einst in fast ganz Deutschland anzutreffenden Bauart.
15.04.2021