Eisenbahn-Geschichte
„Das war das Ende!“ - Zum Kriegsende 1945 in Wurzen
Im Mai 2021 jährt sich das Ende des Zweiten Weltkrieges zum 76. Mal. Das nahm der in Berlin und Israel lebende PK-Leser Dr. Walter Rothschild zum Anlass, der Redaktion einen Text zuzusenden. Diesen fand er in einem Buch mit Nachdrucken aus der Zeitschrift „Fahrt frei“. In dem 1950 veröffentlichten Text werden die Erlebnisse eines Eisenbahners aus den Tagen des Zusammenbruchs im April/Mai 1945 in Wurzen beschrieben. Im Stil der damaligen Zeit enthält der Originaltext auch propagandistische Passagen, die in der folgenden Fassung nicht alle zum Abdruck kommen:
Man schrieb den 16. April 1945 – kurz nach 5 Uhr morgens verlasse ich das Haus in unserem kleinen Städtchen Wurzen an der Mulde. Draußen ist es finster und neblig – der Sturm pfeift. Schneeschauer werden zu Regen. Durch den milchigen Schleier dringt ein Licht. Ich gehe darauf zu. Der Regen kämmt beinahe waagerecht über die Straße. Endlich stehe ich vor meiner Dienststelle – dem Bahnhof, wo ich Fahrdienstleiter bin. Ich löse den Kollegen vom Nachtdienst ab. Der Eisenbahnbetrieb ist fast lahmgelegt, der Fahrplan längst über den Haufen geworfen. Seit zwei Stunden ist der aus Leipzig kommende Personenzug fällig. Gegen 8 Uhr löst sich der Nebel. Wenige Minuten später heulen die Sirenen in der Stadt. Schon vernehmen wir entfernt das Motorengeräusch der Bomber. Die meisten Kollegen suchen die Luftschutzkeller und kleinen Bunker auf. Drüben im Wartesaal drängen sich die Menschen. Es sind fast alles Soldaten. Sie liegen auf dem Fußboden, sind übernächtigt. Zivilisten, die hier seit Stunden hocken, scheinen wohl vergebens zu warten. Nur Militär darf noch fahren. Der große Luftschutzkeller ist zum Bersten voll. Doch die Bomber kommen dieses Mal nicht näher heran. Die Sirenen heulen wieder Entwarnung. Alles strömt aus den Kellern und Löchern. Ich drehe die Kurbel am Streckenfernsprecher, ich will wissen, wo der Personenzug bleibt. Doch am anderen Ende meldet sich niemand mehr. Die Leitung ist zerstört, Tiefflieger haben die Drähte zerfetzt. Plötzlich sehen wir weit draußen Dampfwolken. Tatsächlich fährt nach einer Weile vorn am Stellwerk der längst überfällige Zug in den Bahnhof und hält mit kreischenden Bremsen. Ich muß mit dem Zugpersonal reden und laufe mit einem Rangierer hinüber zum Bahnsteig. Verflucht! Da brüllen die Sirenen wieder. Von der Lokomotive winkt mich ein Kollege mit hastigen Handbewegungen heran. Ich klettere auf die Lok. Der Heizer Miehlig zeigt stumm auf den Maschinenstand. Dort liegt der Lokführer Seidel, blutüberströmt und von unzähligen Kugeln durchbohrt, tot am Boden. Jetzt sehe ich auch, daß der Lokführerstand überall von Geschossen durchlöchert ist. Heizer Miehlig sagt apathisch: ‘Tieffliegerangriffe unterwegs, ich konnte mich retten und den Zug noch hereinfahren.’ Ich rufe nach einer Bahre. Doch die wenigen verfügbaren Tragbahren sind längst belegt. Überall werden aus den Abteilen des Personenzuges Schwerverletzte und Tote ausgeladen, die von den Bordwaffen der amerikanischen Tiefflieger getroffen wurden. Eben tragen sie an mir eine Bahre vorbei. Darauf liegt eine Frau mit verzerrtem Gesicht, die im Todeskrampf ihr Kind fest an sich preßt. Beide sind tot … Inzwischen hastet alles wieder in die Luftschutzkeller. Gemeinsam mit ein paar Kollegen gelingt es mir endlich, den toten Kameraden von der Lok herunter in das Bahnhofsgebäude zu bringen. Hier liegen bereits acht Tote, darunter Frauen und Kinder. Ich muß zurück zum Stellwerk. Da klingt das Dröhnen der Flugzeugmotore in unmittelbarer Nähe. Blitzschnell folge ich dem Beispiel eines Rangierers, der sich ein paar Schritte vor mir neben einem abgestellten Güterzug in den Schotter wirft. Wir liegen – den Kopf im Dreck – Minuten oder Stunden, ich weiß es nicht. Die Motore donnern über uns. Plötzlich saust und braust es um mich, kracht es da und dort. Steine, Erde, Bretter wirbeln durch die Luft. Dann wird es ruhig. Noch liege ich wie betäubt. Ob mein Kollege vor mir noch lebt? Vorsichtig hebe ich den Kopf, richte mich auf und sehe, wie sich Paul Sonntag, der Rangierer, den Dreck vom Körper schüttelt. Dabei flucht er unaufhörlich auf die Verbrecher in Berlin, die noch von einem Siege faseln. Wir gehen gemeinsam zum Stellwerk. Ein Dutzend amerikanischer Jagdbomber zertrümmerten in wenigen Minuten fast sämtliche Gleisanlagen. Etwa 100 Meter neben der Stelle, wo wir lagen, gähnen jetzt große Bombentrichter. Schienen hängen in der Luft, Waggons sind völlig demoliert. Nun ist es aus mit dem Eisenbahnbetrieb – auch bei uns. Mit zitternden Händen, noch aufgeregt vom eben Erlebten, packe ich meine Klamotten zusammen. Die anderen Kollegen sind bereits fort. Das ganze Bahnhofsgelände ist plötzlich wie ausgestorben. Ich trete den Heimweg an. Da heulen die Sirenen unaufhörlich – ‘Panzeralarm!’ Die Stadt gleicht einem aufgescheuchten Ameisenhaufen. Das Nahen der Front, das dumpfe Rollen des Geschützdonners, die gemeldeten und aus südlicher Richtung heranrollenden amerikanischen Panzer erzeugen eine bis auf das äußerste angespannte Atmosphäre. Gegen Mittag zerreißen ungeheure Detonationen die Luft. Die Eisenbahn- und die erst vor wenigen Jahren mit großem Kostenaufwand erbauten Muldenbrücken sowie sämtliche Kanalübergänge werden gesprengt. Sinnlose Zerstörungswut – Politik der verbrannten Erde. Dienstag, den 17. April bis Sonnabend, den 21. April 1945: Noch geben sich die Faschisten und Militaristen nicht verloren. Man befiehlt weiteren Widerstand. Auch unser Nest soll bis zum letzten Mann verteidigt werden. In lächerlicher Einfalt bauen Männer, Frauen und Kinder in allen Ausfallstraßen Barrikaden und ‘Panzersperren’. Man will uns Eisenbahner in den Volkssturm pressen, doch es gehorcht niemand mehr. Auf den Straßen kann man sich nur noch unter Lebensgefahr aufhalten, denn an allen Ecken und Enden knallen Tiefflieger mit ihren Bordkanonen. Abend für Abend stehen rote Feuerpilze am Himmel. Sie geben Kunde vom Schicksal unserer Nachbarstädte. Und während die Einwohnerschaft völlig deprimiert und verängstigt hofft, von einem Luft- oder Artilleriebombardement verschont zu bleiben, sitzen in Wurzen noch einige braune Bonzen und Volkssturmhäuptlinge und geben in sinnlos betrunkenem Zustand ihre ‘Befehle’. Die Detonationen der amerikanischen Artillerie, die jenseits der Mulde in Stellung gegangen ist, und das Knattern der Maschinengewehre dringen mit fürchterlichem Getöse an unsere Ohren. Der eiserne Ring wird immer enger. Die Russen sollen bereits die Elbe überschritten haben – Leipzig ist am 21. April 1945 gefallen. (Anmerkung der Red.: Tatsächlich war es am 20. April 1945.) Sonntag, den 22. April 1945: In den Morgenstunden donnern vier starke Kampfverbände über uns hinweg. Alarm gibt es nicht mehr. Das Luftwarnsystem ist längst zusammengebrochen. Ein Gerücht kommt auf! Einigen beherzten Antifaschisten soll es gelungen sein, mit den Amerikanern Verbindung aufzunehmen. Montag, den 23. April 1945: Die zermürbende Ungewißheit ist kaum noch zu ertragen. Die Nerven sind bis zum Zerreißen angespannt. An Schlaf ist trotz übergroßer Müdigkeit nicht mehr zu denken, denn grüne und rote Leuchtkugeln machen die Nacht zum Tage. Dienstag, den 24. April 1945: In der Morgendämmerung lugen wir aus den Fenstern und glauben, unseren Augen nicht trauen zu können. Überall auf den Dächern wehen weiße Fahnen. Wie ein Lauffeuer verbreitet sich die Nachricht: Wir haben kapituliert. Endlich! Durch die Vermittlung und den persönlichen Einsatz einer Handvoll ist unser Städtchen der drohenden Vernichtung entgangen. Der Kampfkommandant Gestefeld, der noch vor wenigen Stunden das Hissen weißer Fahnen unter Todesstrafe stellte, ist feige geflohen. Motorisierte amerikanische Verbände besetzen die Stadt. In den nächsten Tagen treffe ich mich mit Kollegen auf dem Bahnhof. Hier sieht es wüst aus. Sämtliche Räume, Schränke, Schreibtische sind zerbrochen, alles ist geplündert. … Und dann, am 5. Mai 1945 wehen früh die roten Fahnen über den öffentlichen Gebäuden. Die Sowjet-Armee hat die Amerikaner abgelöst. Wir sind befreit. [sic] Gleich in den ersten Tagen kümmert sich der sowjetische Kommandant um den Wiederaufbau des Transportwesens. Sofort rufen wir alle aufbauwilligen Kollegen zusammen und beginnen mit der Trümmerbeseitigung. Bombentrichter zuschütten, Gleise freilegen usw. Von Volks-Korrespondent Fritz Schüller“
15.04.2021