Eisenbahn-Geschichte
Der Beginn des EDV-Zeitalters bei der Schmalspurbahn Wolkenstein – Jöhstadt
Eine Fahrt nach Jöhstadt Pfingsten 1970
Ein herausragendes Ereignis für Eisenbahnfreunde wie Eisenbahner zugleich war im Jahr 1970 die Einführung des EDV-Nummernschemas an den Triebfahrzeugen der Deutschen Reichsbahn. Die Lokomotiven und Triebwagen aller Traktionsarten erhielten dazu nunmehr einheitlich sechsstellige Betriebsnummern, denen hinter einem Bindestrich eine Selbstkontrollziffer folgte. Alle Dampflokomotiven mit bisher dreistelliger Ordnungsnummer erhielten dazu durch Voranstellung einer Kennziffer vierstellige Ordnungsnummern. Gleichzeitig führte die DR auf den Nummernschildern eine neue Zifferntype ein, die die bisher meist vorhandenen „Spitzziffern“ ablöste. Die neuen Lokschilder wurden einheitlich von der Zentralwerkstatt in Pockau-Lengefeld angefertigt. Diese befand sich auf dem Gelände des ehemaligen Bahnbetriebswerkes Pockau-Lengefeld, das ab 1966 dem Bw Karl-Marx-Stadt-Hilbersdorf und ab 1970 dem Groß-Bw Karl-Marx-Stadt als Triebfahrzeugeinsatzstelle (TE) unterstellt war (siehe PK 162 – „Die Geschichte des Bahnbetriebswerkes Pockau-Lengefeld (Teil 2 – ab 1945)“.
Schon seit früher Jugend hatte ich mich für Schmalspurbahnen interessiert. Ab Mitte der 1960er Jahre ereilte aber immer mehr Strecken der Verkehrsträgerwechsel. Das war der Hauptgrund, warum ich einige Bahnen oft in „letzter Minute“ bereiste. Im Jahr 1970 kam mit der bevorstehenden Einführung des EDV-Nummernschemas bei Lokomotiven ab dem 1. Juni 1970 noch ein weiterer Grund dazu. Die Gelegenheit, Schmalspurlokomotiven mit „alter“ Betriebsnummer auf der Schmalspurbahn Wolkenstein – Jöhstadt zu fotografieren, nahm ich am Pfingstmontag, dem 18. Mai 1970, wahr. Feiertagsbedingt verkehrte auf der damaligen KBS 422 nur der auch als „Fotozug“ bekannte P 3106, 9.23 Uhr ab Wolkenstein. Zuglok war 99 568, zu meiner Überraschung die erste, aber zu diesem Zeitpunkt auch einzige Schmalspurlok des Lokbahnhofes Jöhstadt, die an der Rauchkammertür bereits ein EDV-Nummernschild trug. Ich erfuhr, dass dieses Schild im glänzenden Schwarz mit blanken Ziffern 99 1568-7 am Freitag, dem 15. Mai 1970 – also kurz vor den Pfingstfeiertagen, angebracht worden war. Das war im 1. Halbjahr 1970 bereits erlaubt, aber noch keine Pflicht.
Für mich war es vor 50 Jahren meine erste Begegnung mit einer EDV-gerecht beschilderten Schmalspurlok. Das schwarz gespritzte Stahlblech im Format 841 x 174 mm mit seinen 8 x 140 mm großen aufgenieteten Alu-Ziffern wirkte auf mich als Eisenbahnfreund und Fotograf an der kleinen Lok völlig überdimensioniert. Dieser Anblick war für mich sehr gewöhnungsbedürftig und ich empfand ihn damals als eine „Katastrophe“ für meine Fototour. Bei Schmalspurloks war ich an Gussschilder mit Spitzziffern gewöhnt – doch nun gab es dieses große EDV-Nummernschild an der eher zierlich wirkenden Rauchkammer der IV K. In Jöhstadt befanden sich zu Pfingsten 1970 die Reserveloks 99 582 (unter Dampf) im Lokschuppen auf Gleis 2, 99 596 im Lokschuppen auf Gleis 3 und 99 599 im Freien – alle drei noch mit alten Nummernschildern, so wie ich es erwartet hatte. Zu meiner Überraschung stand dort aber auch die VI K 99 699 des Bw Wilsdruff abgestellt, die im Sommer 1969 als Heizlok im Möbelwerk Jöhstadt verwendet wurde und anschließend für mehrere Monate im Bahnhof Jöhstadt abgestellt war und hier schließlich ausgemustert wurde. Als Besonderheit ist zu erwähnen, dass die Lokomotiven 99 599 und 99 699 eine Zeit lang nebeneinander standen. Selbst im Raw Görlitz dürfte so ein Zusammentreffen dieser beiden Schmalspurloks mit der 99 am Anfang und am Ende ihrer Nummern vermutlich nie stattgefunden haben. Unter den aufgezählten IV K, die 1970 im Lokbahnhof Jöhstadt beheimatet waren, gehörten mit 99 596 und 99 599 auch noch zwei „Altbau-IV K“, die in den 1960er Jahren weder einen neuen Kessel erhalten hatten noch in das Programm der Großteilerneuerung einbezogen worden waren. Beide erhielten Ende Mai 1970 ebenfalls je ein EDV-Loknummernschild. Bei meinem Besuch Mitte Mai 1970 verfügten alle Jöhstädter IV K über Scharfenbergkupplungen. Als letzte Lok dieser Dienststelle war 99 596 im März 1970 im Raw Görlitz von Trichter- auf Scharfenbergkupplungen umgerüstet worden.
Zu den Zufällen der Geschichte gehört es, dass die einstige Jöhstädter Stammlok 99 568 und zugleich erste Lok mit einem EDV-Nummernschild auf der Schmalspurbahn Wolkenstein – Jöhstadt auch heute, 50 Jahre später, in Jöhstadt beheimatet ist. Die IG Preßnitztalbahn e. V. hatte sie gemeinsam mit der 99 1542-2 am 22. November 1991 von der Deutschen Reichsbahn gekauft. Am 10. Januar 1992 kehrte mit der 99 1568-7 nach 2918 Tagen die erste IV K seit 1984 nach Jöhstadt zurück. Laut Betriebsbuch stand 99 568 von Mügeln kommend ab dem 4. November 1953 erstmalig im Lokbahnhof Jöhstadt im Einsatz. Übrigens verfügte die Lok von einem Raw-Aufenthalt im Juli 1965 bis zu ihrer Umzeichnung am 15. Mai 1970 auf der Lokführerseite an der Führerhauswand über ein interessantes Nummernschild. Es bestand aus Ziffern unterschiedlicher Epochen – die „99“ aus den 1938 bei der Deutschen Reichsbahn eingeführten Spitzziffern und die „568“ aus breiten Aluziffern, wie sie 1934/35 die zuvor üblichen Ziffern aus Messing abgelöst hatten. In welcher Sammlung wird sich heute dieses Nummernschild befinden?
Bis zur im Juli 1965 in Görlitz ausgeführten L2 bestand auch die „99“ noch aus breiten Aluziffern. An deren Rückseite befanden sich jeweils zwei 10-mm-Nietzapfen, die im Laufe der Jahrzehnte brüchig wurden. Entweder im Vorfeld der L2 oder bei einer Festigkeitsprüfung im Raw fiel die zweite der beiden „Neunen“ vom Lokschild. Daraufhin ersetzten die Eisenbahner im Raw Görlitz beide alten Ziffern durch zwei „Spitzziffer-Neunen“, wie es auch bei Lokschildern anderer Maschinen in den 1960er Jahren gehandhabt worden war. Erwähnt werden muss noch, dass bei der Umzeichnung im Jahr 1970 alle Schmalspurlokomotiven für eine baldige Ausmusterung vorgesehen waren. Daher bekamen sie lediglich ein EDV-Nummernschild für die Rauchkammer. An den Führerhauswänden und am Tender waren die neuen Nummern 1970 mit weißer Farbe aufzumalen, was aber nicht gleich 1970 bei allen Loks geschah. Erst viel später erhielten viele Maschinen auch für das Führerhaus und den Kohlenkasten noch Schilder nachgefertigt. Wenn heute die Schmalspurloks auf der Museumsbahn mit vier auf Hochglanz geputzten EDV-Nummernschildern ausgerüstet sind, dann spiegelt das den Zustand der End-1970er und 1980er Jahre wider, nicht aber den aus den frühen 1970er Jahren!
Von Rainer Heinrich 1970 auf der Preßnitztalbahn gesichtete Lokomotiven:
Lok-Nr. | Abschluss Großteilerneuerung | EDV-Nummer | abgestellt |
---|---|---|---|
99 568 | 24.06.1964 Raw Gö | 99 1568-7 | – (heute IGP Jöhstadt) |
99 582 | 04.11.1964 Raw Gö | 99 1582-8 | – (heute Schönheide M) |
99 596 | – | 99 1596-8 | wL7 27.03.1971 |
99 599 | – | 99 1599-2 | wL7 08.02.1973 |
99 699 | – | – | 1969 nach Heizlokeinsatz |
11.10.2020