Stillgelegte Eisenbahnstrecken heute
Relikte der Südharzeisenbahn – auf den Spuren einer fast vergessenen Bahn
Majestätisch erhebt sich Deutschlands nördlichstes Mittelgebirge am Rand des Norddeutschen Tieflands: der Harz. Johann Wolfgang von Goethe und Heinrich Heine haben ihn uns wie keine anderen deutschen Dichter so nah gebracht. In diesem Gebirge haben sich meine Frau und ich im vorigen Oktober auf die Spurensuche nach einer Schmalspurbahn begeben, die nicht in Vergessenheit geraten sollte – die Südharzeisenbahn, abgekürzt SHE.
Die erste und zugleich stets wichtigste SHE-Strecke mit 1000 mm Spurweite wurde am 15. August 1899 von Walkenried am Südrand des Harzes nach Braunlage eröffnet, um diesen Teil des westlichen Harzes wirtschaftlich zu erschließen. Noch im gleichen Jahr gingen die dem Güterverkehr dienende Verlängerung zum Wurmberg sowie die im Reise- und Güterverkehr genutzte Stichbahn nach Tanne in Betrieb. Der SHE-Bahnhof Walkenried lag gegenüber dem Staatsbahnhof an der regelspurigen Hauptstrecke Nordhausen – Northeim. Heute befindet sich das ehemalige Empfangsgebäude in Privateigentum. Nach Verlassen des Bahnhofes umfuhren die Züge der Schmalspurbahn den Ort, um dann ins Wiedatal einzubiegen. Dieses Flüsschen begleitete die Bahntrasse eine ganze Weile. Nach über drei Kilometern erreichte die Bahn den Ort Wieda. Diese Ortschaft hatte drei Stationen und mehrere Industrieanschlüsse – immerhin besaß Wieda einst ein Hüttenwerk, eine Ofen- und eine Zündholzfabrik.
Danach tauchte die Schmalspurbahn ins Weinglastal ein, ein U-förmiges Tal, das seinen Namen nach einer ehemaligen Glashütte erhielt. In der Kehre des Tales befand sich der Bahnhof Stöberhai. Im Gebäude des ehemaligen Haltepunktes befindet sich heute ein Gasthof. Nach Verlassen des Tales und dreimaliger Kreuzung der Landstraße nach Braunlage erreichte die Bahn beim Haltepunkt Kaiserweg mit 608 m über NN ihren höchsten Punkt. Ab Walkenried hatte die Südharzeisenbahn nun einen Höhenunterschied von 333 m auf einer Länge von 16,5 km überwunden.
Nach Braunlage und Tanne ging es nun stetig bergab. Der Abzweig nach Tanne befand sich im Bahnhof Brunnenbachsmühle (531 m über NN). Das dortige Empfangsgebäude beherbergt heute ein Landschulheim. Im Bahnhof Tanne hatte man Anschluss an die regelspurige Rübelandbahn. Kurz vorher, am SHE-Bahnhof Sorge, entstand 1913 ein Verbindungsgleis zu der von der NWE betriebenen Harzquerbahn. So konnten Touristen von Braunlage in Kurswagen zum Brocken fahren.
Die wirtschaftliche Bedeutung der Südharzeisenbahn erlebte in den 1930er Jahren einen Höhepunkt: Ein Steinbruch bei Braunlage sowie die Fabriken in Wieda nutzten die Bahn, um mit Hilfe von Rollböcken normalspurige Güterwagen zu befördern. Gleichzeitig erlebte der Tourismus in Braunlage einen enormen Aufschwung.
Die Züge benötigten für die 24,7 km von Walkenried nach Braunlage 70 min und für die 28,6 km lange Strecke nach Tanne über Brunnenbachsmühle 83 min. An Lokomotiven beschaffte die Privatbahn zunächst Mallets von Jung sowie von Henschel & Sohn. Nachdem sich ein von Orenstein & Koppel gebauter E-Kuppler mit Luttermöller-Endachsen auf den bogenreichen Strecken bewährt hatte, wurden die beiden Henschel-Mallets ebenfalls zu E-Kupplern mit Luttermöller-Endachsen umgebaut. Ab den 1930er Jahren setzte die SHE einen Eigenbau-, später von den Fa. DWK und MAN gebaute Dieseltriebwagen ein, die bis zur Betriebseinstellung im Bestand blieben. Parallel erwuchs ab den 1930er Jahren mit einer der ersten Omnibuslinien Deutschlands die Konkurrenz zur Bahn.
Gemäß des Londoner Protokolls von 1944 fiel der Teil östlich der Warmen Bode nach Kriegsende 1945 an die Sowjetische Besatzungszone, wovon der Streckenteil nach Sorge/Tanne betroffen war. Diesen Teil stellte die SHE daraufhin ein. Im Jahr 1963 beendete die Südharzeisenbahn auch den Betrieb auf ihrer Stammstrecke Walkenried – Braunlage und baute das Gleis anschließend zurück.
Heute befinden sich auf den Trassen Rad- und Wanderwege, auf denen man wunderbar den Westharz erkunden kann. An den Wegen sind 13 Infotafeln aufgestellt, die über die Geschichte der Südharzeisenbahn informieren. Im vereinigten Deutschland wurden im Harz Anfang der 1990er Jahre Stimmen laut, die einen Bahnanschluss Braunlages an das Streckennetz der HSB anregten. Der damalige niedersächsische Verkehrsminister Dr. Philipp Rösler war ein aktiver Förderer dieses Projektes, er wechselte jedoch 2009 nach Berlin in die Bundespolitik. Obwohl das Projekt einer Neubaustrecke mit etwa 5 km Länge zurzeit ruht, hoffen viele Eisenbahnfreunde, dass man eines Tages wieder per Bahn von Braunlage zum Brocken fahren kann.
10.02.2022