Reisebericht
Kohlrabi schmeckt und ist gesund – kann aber sogar einen Zug aufhalten
Die Schmalspurbahn Wolkenstein – Jöhstadt verkehrte in den 1980er Jahren unter der Kursbuchnummer 422 und war als Preßnitztalbahn weit über die Grenzen der DDR bekannt. Sie verkörperte bis zur Einstellung des Personenverkehrs 1984 den Urtyp einer gemütlichen Nebenbahn, die weder Hektik noch Stress zu kennen schien. Sie wirkte wie ein Fremdkörper in einer Welt, die nur auf das Materielle ausgerichtet ist. Dies lag zu einem Teil auch daran, dass die Erzgebirger freundliche, nette und gemütliche Menschen sind und bei denen „giits nu moal nie so schnell“. Zum anderen Teil war das lange Überleben der Bahn dem Umstand geschuldet, dass es sich bei der Gegend schon immer um ein Notstandsgebiet gehandelt hat, mit wenig Industrie und einer kärglichen Landwirtschaft. Die viel gepriesene sozialistische Gesellschaftsordnung brachte es nicht fertig, im Preßnitztal ordentliche Straßen zu schaffen. Hinzu kamen im Straßenverkehr Treibstoffmangel und veraltete Fahrzeuge.
Der Fahrplan der Schmalspurbahn stellte Anfang der 1980er Jahre einen Anachronismus dar, denn als Tourist konnte man nur den P14 287, den sogenannten Fotografierzug (Wolkenstein ab ca. 9.30 Uhr), und den P14 292 (Jöhstadt ab ca. 13.50 Uhr) nutzen. Da ausschließlich Dampfloks der Bauart Meyer (sächsische Gattung IV K) verkehrten, war die Strecke zu einem Eldorado der Eisenbahnfreunde aus dem In- und Ausland geworden.
Ich besuchte die Strecke zum ersten Mal am 24. August 1976 und war sofort begeistert. Die Verbindung von Landschaft und Schmalspurbahn faszinierte mich. Mit dieser Bahn musste man einfach mitgefahren sein! Ihr ganzes Fluidum lässt sich nur andeutungsweise schildern.
Am 19. Januar 1979 machte ich gemeinsam mit dem inzwischen leider bereits verstorbenen Hans-Jürgen Rosner eine Exkursion zu dieser Bahn. Von Dresden bis Wolkenstein fuhren wir mit seinem Skoda-MB 1000. Es war fürchterlich kalt, mittags lag die Quecksilbersäule immer noch bei -10 0 Celsius. In den Personenwagen des P14 287 war es aber wohlig warm, denn das Personal der Lok 99 1561-2 hatte mächtig eingeheizt. Die Fahrt durch das tief verschneite Tal wirkte wie die Reise durch einen Märchenwinterwald. Unter der Last des Schnees brachen die Äste, vereinzelt waren Rehe zu sehen. Der strenge Frost trieb sie zu den Häusern der Menschen. In Jöhstadt ragten die Eiszapfen am Lokschuppen fast bis auf den Erdboden. Der Anblick dieser bizarren Gebilde war einzigartig. Der Schnee lag auf dem Bahnhofsgelände so hoch, dass er mittels Schmalspurgüterwagen auf das ehemalige Streckengleis in Richtung Feuerlöschgerätewerk gefahren werden musste, wo er auf freier Strecke entladen wurde.
Da ich die Preßnitztalbahn gut kannte, bat mich mein Kollege Gerold Lange, mit ihm dorthin eine Exkursion zu machen. Am 18. Juni 1982 ging es früh mit seinem Auto der Marke Skoda MB 1000 los nach Wolkenstein. Von dort begleiteten wir den erneut von der Lok 99 1561-2 geführten P14 287 mit dem Auto und machten an verschiedenen Stellen Fotos. Trotz der beengten Straßenverhältnisse hielten wir gut mit dem Zug mit. Da ich gerne ein Stück mitfahren wollte, bat ich meinen Kollegen, er möge mich am Bahnhof Steinbach absetzen. Außer mir wartete dort eine ältere Dame mit drei „Dreier Kisten“ voll Kohlrabi, die mit dem Zug nach Jöhstadt transportiert werden sollten. Sie waren für den dortigen Konsum bestimmt.
Der Zug fuhr ein und die Lok musste hier wie gewohnt ihre Wasservorräte ergänzen. Im Zug befand sich eine Reisegesellschaft mit schon recht angeheiterten Herren, die dem Bier bereits sehr zugesprochen hatten. Etliche Herren stiegen aus, sahen den Kohlrabi und kamen auf die Idee, zu kosten. Die Männer überredeten die Frau, ihnen einige Stücke zu verkaufen, was sie anfangs nicht wollte. Nach gutem Zureden war jedoch der erste Handel abgeschlossen. Der Kohlrabi schmeckte den Herren so gut, dass sie immer mehr wollten. Sie nötigten die Frau, ihnen peu a peu den gesamten Inhalt der Kisten zu verkaufen. Dabei ging selbstverständlich viel Zeit ins Land. Das Zugpersonal schaute belustigt zu. An eine Weiterfahrt war nicht zu denken, da sich die meisten Fahrgäste noch auf dem Bahnsteig befanden. Erst als alle Kohlrabis „verputzt“ waren und die Frau neben dem Geld auch noch die Gemüseblätter für ihre Karnickel erhalten hatte, konnte es nach dem fast 25-minütigen außerplanmäßigen Halt weitergehen. Im Zug kreisten weitere Bierflaschen.
Was der Jöhstädter Konsumverkaufsstellenleiter über die ausgebliebene Lieferung gesagt hat, konnte ich mir bei dem damaligen Obst- und Gemüsemangel recht gut vorstellen! Aber auf so eine dumme Idee kommt man wohl auch nur im Suff. Mein Kollege war indessen am nächsten Fotostandort schon recht unruhig geworden und dachte, es wäre etwas passiert. Aber so etwas konnte auf der Strecke Wolkenstein – Jöhstadt schon einmal vorkommen!
Das letzte Mal besuchte ich die mir inzwischen liebgewordene Bahn am 2. Januar 1984. Die Einstellung des Personenverkehrs zwischen Niederschmiedeberg und Jöhstadt war bereits für die nächsten Tage avisiert. Ich erinnere mich noch gut an das Wetter. Für einen 2. Januar war es ungewöhnlich warm und es goss in Strömen. Selbst auf den Berghängen war nirgends Schnee zu erblicken.
Wegen des überaus schlechten Oberbauzustandes dauerte die Fahrt sage und schreibe 115 Minuten (!) – und das für 23 km Länge! Ab Oberschmiedeberg durfte der von der IV K 99 1606-5 geführte P14 287 nur noch 10 km/h fahren. Die Verantwortlichen der DR hatten viele Jahre nichts zur Erhaltung an der Strecke genehmigt. Nachdem der Zustand des Oberbaues sicherheitsgefährdend geworden war, konnten sie sich endlich von der bei ihnen ungeliebten und völlig defizitären Strecke trennen. Im sozialistischen Vokabular galt ja die Sicherheit des Menschen mit als das höchste Gut.
Alle Proteste und Bürgerinitiativen für den Erhalt der Schmalspurbahn waren umsonst. Die Stasi musste sogar die in ihren Augen „staatsgefährdende“ Losung „Stoppt den Wahnsinn! Rettet unsere Bahn!“ am Bahnhof Steinbach überpinseln.
Das nahe Ende wirkte sich auch auf die Eisenbahner aus, sie waren unlustig und verunsichert. Ihre Stimmung war am 2. Januar 1984 bei der Kaffeepause in Niederschmiedeberg gedrückt. Hier hielt der P14 292 jeden Tag ca. 20 Minuten planmäßig. Die wenigen Reisenden gingen mit dem Personal in die Gaststätte. Als sich die Arbeiter der Kühlschrankfabrik nach Schichtwechsel im Zug eingefunden hatten, ging es weiter nach Wolkenstein.
Meine Aufzeichnungen schloss ich Ende der 1980er Jahre mit den Worten: „Leider kommt ein solcher Betrieb nie wieder, aber die Erinnerung an die liebenswerte Schmalspurbahn wird bleiben.“
14.12.2020