Reisebericht
Sommerferien 1985 mit dem „Lager für Erholung und Arbeit“ zwischen Mügeln und Kemmlitz
Das diesjährige Schmalspurbahnfestival bei der Döllnitzbahn aus Anlaß der 125-Jahrfeier der Eröffnung des Abschnittes Oschatz − Mügeln hatte für mich einen besonderen „persönlichen Aspekt“ parat, bot es doch genau ein Vierteljahrhundert nach meinen ersten aktiven Berührungen mit der Schmalspurbahn einen guten Anlaß für eine vergleichende Rückschau − quasi eine Reise in die eigene Vergangenheit. Denn in der Rückblende ist diese Zeit vor 25 Jahren prägend für das ab 1991 folgende aktive Mittun am Wiederaufbau einer anderen sächsischen Schmalspurbahn.
„Lager für Erholung und Arbeit“
Im Schulleben der DDR spielten die „Lager für Erholung und Arbeit“, kurz LEA (oder auch „Lager für Arbeit und Erholung“), eine wichtige Rolle bei der Gestaltung der Schulferien ab Klassenstufe 8, also mit einem Alter der Schüler ab mindestens 14 Jahren. Aber auch die durchführenden Betriebe und Einrichtungen, die mit diesen durchaus auch planten und in der Sommerurlaubszeit manche personelle Durststrecke überstanden, profitierten von ihnen. Auf freiwilliger Basis konnten sich Schüler für diese meist zwei- oder dreiwöchigen LEA melden. Im Unterschied zu normalen, ausschließlich auf Erholung, Spaß und Spiel angelegten Ferienlagern in entsprechenden Einrichtungen der Betriebe und Organisationen, waren die „Lager für Erholung und Arbeit“ zumeist so organisiert, daß durch die „Lagerteilnehmer“ zwischen vier und sechs Stunden an fünf Tagen in der Woche in einem Betrieb bzw. an einer bestimmten Aufgabe gearbeitet wurde − der Rest des Tages sowie die zwei weiteren Tage in der Woche standen für eigene Freizeitbetätigungen oder gemeinsame Besuche von Kulturveranstaltungen zur Verfügung − quasi wie im Ferienlager. Die Arbeitstätigkeit der Schüler wurde entlohnt, wobei sich der Stundenlohn schon an den entsprechenden Sätzen der eigentlichen Mitarbeiter der Betriebe orientierte. Die Unterbringung erfolgte in der Regel in Lehrlingswohnheimen oder Betriebsschulen, die in den Sommerferien ohnehin meist leer standen. Inwieweit dann tatsächlich „Lagerleben“ organisiert wurde, hing sehr von den räumlichen Möglichkeiten sowie der Lust und dem Engagement der zum Sommereinsatz verpflichteten Lehrer ab. Eingesetzt wurden die Schüler an fast allen Brennpunkten der sozialistischen Produktion: in der Landwirtschaft, im Forst, in Industriebetrieben, für die Reinigung von Anlagen und nicht zuletzt auch bei der Deutschen Reichsbahn.
LEA bei der Bahnmeisterei Döbeln
Der Reiz, in den Sommerferien nach der 10. Klasse selbsterarbeitetes Geld in der Hand zu halten und dies aktiv bei der Deutschen Reichsbahn zu verdienen, dürfte für mich im Frühjahr 1985 der ausschlaggebende Punkt gewesen sein, mich direkt im Anschluß an den Schuljahresabschluß der 10. Klasse für das an Dresdner Schulen angebotene „Lager für Erholung und Arbeit“ der Bahnmeisterei Döbeln einzutragen. Als Modelleisenbahner hatte ich ja schon ein paar Grundkenntnisse zum System Eisenbahn drauf, allein die Aussicht auf praktischen Bezug und hautnahen Kontakt ließ das Ganze natürlich noch deutlich interessanter erscheinen.
Anfang Juli 1985, wenige Tage nach Beginn der Sommerferien, startete der Ferieneinsatz, der zwischen Mügeln und Kemmlitz für vielfältigen Gleiserhaltungsarbeiten genutzt werden sollte. Inwieweit dies mit dem runden Jubiläum der Strecke Oschatz-Mügeln zusammen hing, erkannte ich damals nicht. Die Unterbringung erfolgte in Döbeln im Lehrlingswohnheim der Bahnmeisterei oberhalb des Hauptbahnhofes. Ich erinnere mich noch gut daran, daß zahlreichen Lagerteilnehmern bereits am zweiten Tag die Lust gänzlich vergangen war − im Schmalspurgleis Unkraut zu jäten, halb zerfallene Schwellen auszugraben (Schotter war vielfach auch nicht mehr vorhanden, deshalb konnte man das stellenweise mit dem Spaten machen) und dann neuere aber auch gebrauchte Schwellen wieder in das entstandene Loch einzubauen oder den Bahngraben zu reinigen − diese Tätigkeiten würden aber sicher auch heute beim Großteil der 14- bis 16-jährigen nur wenig Begeisterungsstürme erzeugen. Interessant wurden die Arbeitstage für mich besonders dann, wenn mit einem Arbeitszug (Az) bis zur Einsatzstelle gefahren werden mußte, weil ein Fußweg von der nächsten Bushaltestelle zu viel Zeit in Anspruch genommen hätte oder gar der Az Bestandteil der Arbeitsaufgabe wurde. Dann war Schmalspuratmosphäre pur angesagt. Im Länderbahnpackwagen oder im OOw hinter einer IV K die Ortslage Mügeln durchqueren, Nebitzschen passieren und dann im Einschnitt des Streckenabschnittes vor Kemmlitz unter Aufsicht von zwei „uralten“ Männern der Bm quasi eine Urwaldbahn freizulegen − das hatte schon einen besonderen Reiz. Reger Güterverkehr an der Strecke sorgte für regelmäßige Pausen, beim Freilegen der Bahngräben von Strauchwerk tauchten auch regelmäßig Teile auf, die ihren eigentlichen Verwendungszweck eher an Wagen oder Lokomotiven hatten. Nach welchem System allerdings die Arbeitsorte ausgewählt wurden, erschloß sich mir nicht - zu tun gab es überall reichlich, die Ausstrahlung einer Eisenbahnstrecke im fortgeschrittenen Verfallsstadium war an vielen Stellen zu registrieren.
Bleibende Eindrücke
Auch das Gleisareal des Bahnhofs Mügeln war einige Tage Einsatzgebiet − unkrautzupfend konnte man gut die Zugbewegungen auf dem weitläufigen Gelände überschauen, ohne allzusehr beim Nichtstun aufzufallen. Auch abgestellte Wagen waren reizvoll, doch absoluter Anziehungspunkt war natürlich das Mügelner Heizhaus, wenn sich hier zu bestimmten Zeiten gleichzeitig vier IV Ks unter Dampf aufhielten. In der Erinnerung stand das Mügelner Gleisareal immer voll mit aufgebockten Güterwagen (meist Es-Wagen) − egal ob leer nach Kemmlitz oder voll nach Oschatz oder für den Kohlenhändler Lässig und andere Güterkunden bestimmt. Das war beeindruckend, auch wenn ansonsten die Anlagen eher einen morbiden Charme ausstrahlten. Für mich als in der Großstadt aufwachsenden 16jährigen war es natürlich das besondere Erlebnis dieser zwei Wochen, hier erstmals auf einer Dampflok mitfahren zu dürfen. Welche Lok? 99 1542-2 - das merkt man sich.
Vom sonstigen begleitenden Kulturprogramm ist mir nicht mehr viel in Erinnerung. Kino in Döbeln, Zoo-Besuch in Leipzig, Wanderungen standen auf dem Programm … und noch ein paar Exkursionen auf eigene Faust zum und quer über das Gelände des Bahnhofes Döbeln, auf dem zu dieser Zeit noch regelmäßig Loks der Baureihe 50.35 Halt machten. In der Erinnerung fest „eingebrannt“ blieb auch die tägliche Fahrstrecke des Ikarus-Busses von und nach Döbeln. Entlang der ehemaligen Schmalspurstrecke von Mügeln nach Döbeln konnte man noch einige Relikte ausmachen − irgendwie schien das aber außer mir niemanden zu interessieren. Dafür aber boten auch diese Sichtungen einen Anreiz, mich in der Folge intensiver mit Literatur über die Schmalspurbahnen in der DDR zu beschäftigen. Leider begann ich zu dieser Zeit erst, selbst mit fotografischen Versuchen eine Dokumentation der Erlebnisse zu erstellen, so daß die wenigen Bildzeugnisse nur mäßige Qualität aufweisen.
Regelmäßige Wiederkehr
Seit 1990 kehrte ich regelmäßig alle paar Jahr wieder einmal zu der Eisenbahn zwischen Oschatz, Mügeln und Kemmlitz zurück. Es gab unterschiedliche Anlässe dafür, die auch direkt mit dem Wiederaufbau einer anderen Schmalspurbahn zusammenhingen. Dies bot auch die Möglichkeit, eine Entwicklung zu beobachten, die zunächst mit ersten Sanierungsarbeiten, Betreiberwechseln, neuen Verkehrsangeboten und Einstellung anderer Verkehre einherging. Die Entwicklung der letzten vier, fünf Jahre ist dabei am deutlichsten, die Bahn ist an vielen Stellen fast nicht mehr wiederzuerkennen. Gleichzeitig hat sie dabei viel von diesem Charme zurückerhalten, den man heute gern als besondere Schmalspurbahnatmosphäre bezeichnet.
Mich hatte im Sommer 1985 ganz offensichtlich ein Virus erwischt, der nach reichlich fünf Jahren Inkubationszeit endgültig ausbrach - aber das ist schon wieder ein anderer Reisebericht.
Anmerkung für die Online-Ausgabe
Die hier gezeigten Fotos wurden auch in der Printausgabe verwendet. Durch die Vorbereitung für den Druckprozess sind die offensichtlichen Beschädigungen der Fotos (Negative) weniger sichtbar. Um die Illustration des Beitrages dennoch mit Aufnahmen aus der Zeit des Arbeitseinsatzes vornehmen zu können, wurde trotz der schlechten Bildqualität eine Wiedergabe vorgenommen.
08.08.2010