Fahrzeuge im Porträt
SDG-Wagen 970-491 – ein Museumsfahrzeug?
Die Vorgeschichte
Vor 15 Jahren wechselte die Schmalspurbahn Cranzahl – Kurort Oberwiesenthal aus dem Bestand der DB AG in die Obhut des Landkreises Annaberg. Die Betriebsführung übernahm die BVO Bahn, ein Tochterunternehmen des Busverkehrsbetriebes der drei damals noch im Erzgebirge existenten Landkreise. In den folgenden Jahren kamen auf der CW-Linie bis auf eine Ausnahme zwischen 1978 und 1990 modernisierte Reisezugwagen mit Aluminiumfenstern und Druckluftbremsen zum Einsatz. Sie erhielten das Logo „BVO Bahn“ und in großen gelben Lettern den Schriftzug „Fichtelbergbahn“. Manche Fotografen machten deshalb viele Jahre einen großen Bogen um die 1897 eröffnete Strecke. Hinter der genannten Ausnahme verbarg sich der vierachsige offene Aussichtswagen 970-310, den die BVO Bahn von 1999 bis 2003 aus Rittersgrün angemietet hatte. Den drei 1998 in Oberwiesenthal noch vorhandenen Altbau-Sitzwagen 970-495, 970-507 und 970-544 (alle mit Saugluftbremsen versehen) schenkte die Betriebsleitung nach 1998 keinerlei Beachtung – ungenutzt verfielen sie langsam immer mehr. Daraufhin stimmte der Landkreis als Eigentümer der Wagen vor mehreren Jahren einer Abgabe nach Jöhstadt (970-495 und 970-507) sowie Schönheide Süd (970-544) zu. Auf der CW-Linie verblieb lediglich der nicht betriebsfähige Mannschaftswagen 979-021, bei dem es sich ebenfalls um einen Traglastenwagen handelt. Seit Mai 2007 firmiert das Eisenbahnverkehrsunternehmen (EVU) der BVO (nach Fusionen mit der Autobus GmbH Sachsen seit Anfang 2011 Regionalverkehr Erzgebirge GmbH – RVE) als „Sächsische Dampfeisenbahngesellschaft mbH“ (SDG). Danach erhielten 2007 alle Wagen das Logo der SDG – der in großen gelben Lettern angebrachte Schriftzug „Fichtelbergbahn“ blieb.
„DR“-Wagen bei der SDG
Erste Ausnahmen zum beschriebenen Beschriftungsschema stellen die vier modernisierten Sitzwagen 970-324, 970-395, 970-399 und 970-416 dar, die von 2003 bis 2006 im Rahmen einer Kooperationsvereinbarung mit der RüKB GmbH jeweils im Sommer auf der Insel Rügen genutzt worden waren. Dazu hatten sie neben dem BVO-Logo auch ein RüKB-Signet erhalten. Im Rahmen ihrer 2006 beginnenden erneuten betriebsfähigen Aufarbeitung bekamen die Wagen eine Neulackierung und neue Beschriftung mit DR im Stil der 1980/90er Jahre. Diesen „DR-Rekowagen-Zug“ ergänzen seit mehreren Jahren auch der „Rekowagen“-Prototyp 970-474 sowie der von der SDG vom Öchsle nach Sachsen zurückgekaufte Altbau-Gepäckwagen 974-324. Bei auf Historie orientierten Fotografen findet der „DR-Zug“ großen Zuspruch. Das geht so weit, dass er für Fotozwecke gezielt gechartert wird. Diese hohe Akzeptanz der mit DR beschrifteten Wagen führte vor etwa zwei Jahren in Oberwiesenthal scheinbar auch zu einem Umdenken in puncto „Altbauwagen“. Doch bis auf den Mannschaftswagen 979-021 befanden sich alle nicht modernisierten Sitzwagen längst bei der IG Preßnitztalbahn e.V. und beim Förderverein Historische Westsächsische Eisenbahnen e.V. (FHWE). Also entschied sich die Betriebsleitung, den in Cranzahl abgestellten 979-021 zu reaktivieren und zum vollwertigen Sitzwagen mit Druckluftbremse umzubauen.
Aus der Geschichte von 979-021
Wie inzwischen zweifelsfrei belegt ist, handelt es sich bei diesem Wagen um einen 1913 in Bautzen als Traglastenwagen der Gattung DD (4. Klasse) gebauten Vierachser, den die K.Sächs.Sts.E.B. innerhalb der lfd. Nr. 729 führten und mit der Betriebsnummer 497K in Dienst gestellt haben. Anschließend erfolgten folgende Umzeichnungen:
- DRG-Nummer ab 1927: K1225 Dresden
- DRB-Nummer ab 1938: 1225 Dre
- DR-Nummer ab 1950: 7.1225
- DR-Nummer ab 1958: 970-491 In den 1960er Jahren nutzte die Rbd Dresden den außen inzwischen mit Blechen verkleideten Sitzwagen auf der CW-Linie, wo er nach aktuellen Forschungen am 30. Juni 1971 ausgemustert worden ist. Doch der Wagen blieb in Cranzahl, wo er per 25. September 1972 zurück in den Unterhaltungsbestand gelangt sein soll – allerdings als Mannschaftswagen 979-021. Aufgrund des Wagenmangels bei der Döllnitzbahn kam der mit typischen grünen Hartpolstersitzen 2. Klasse versehene Vierachser um die Jahrtausendwende kurzzeitig im Mügelner Netz zum Einsatz – danach stellte ihn die BVO ab.
Traglastenwagen lfd. Nr. 729
Nun ein kleiner Exkurs zu den Traglastenwagen der lfd. Nr. 729: Zwischen 1913 und 1926 entstanden in den Waggonfabriken in Bautzen, Werdau und Zwickau insgesamt 239 solcher Fahrzeuge – ausschließlich für die Schmalspurbahnen in Sachsen. Bei Indienststellung verfügten sie allesamt über eine Bestuhlung 4. Klasse – das bedeutet zwei Bretter als Sitzfläche und eine etwas breitere Leiste als Lehne. Mit dieser Inneneinrichtung ist bis heute zum Beispiel der 970-583 der IGP im Einsatz, weitere derartige Wagen gibt es in Radebeul und Zittau. Nach Abschaffung der 4. Klasse 1928 änderte sich an der Bestuhlung in den Traglastenwagen nichts! Lediglich außen ließ die RBD Dresden die 4.-Klasse-Tafeln durch solche 3. Klasse ersetzen. Erst in den 1950er Jahren begann die Reichsbahn damit, in die Wagen Hartpolstersitze 2. Klasse einzubauen – dabei handelte es sich um neues Sitzgestühl, deren flach gepolsterte Sitzflächen und Lehnen mit grünem Kunstleder überzogen waren. Sächsische Traglastenwagen mit 3.-Klasse-Bestuhlung – Holzlattensitzbänke, die der Sitzhaltung eines Menschen nachempfunden sind – hat es indes in der Geschichte der Schmalspurbahnen bei der Deutschen Reichsbahn zu keinem Zeitpunkt gegeben.
Aktueller Zustand 970-491 der SDG:
Anfang September 2013 stellte die SDG den in der RVE-Werkstatt in Marienberg grundlegend neu aufgebauten 979-021 unter seiner korrekten alten Betriebsnummer 970-491 in Dienst. Seitdem weist der Wagen folgende Merkmale auf:
- neu angefertigte Holzlattenbänke 3. Klasse
- Innenverkleidung mit Spanplatten
- braun lackierte Holzrahmenfenster
- grüne Hochglanzlackierung außen
- beschriftet mit „DR“ und KB4, Zusatz-Angaben unter dem „DR“ an den Wagenblechen
- auf das Wagengerüst geklebte Blechverkleidung ohne Schraubenköpfe
- der neu gebaute Wagenkasten ist etwa 10 cm höher als das Original, was auch im „Rekowagen-Zug“ auffällt
Deutungsversuch – was ist passiert?
Die SDG betreibt keine Museumsbahnen, sondern erbringt als Eisenbahnverkehrsunternehmen ÖPNV-Dienstleistungen auf der Fichtelberg-, Weißeritz- und Lößnitzgrundbahn. Beschriftung und Lackierung der Fahrzeuge obliegen der Geschäfts- und jeweiligen Betriebsleitung – eine Selbstverpflichtung, das historische Erscheinungsbild aus Reichsbahnjahren zu präsentieren, gibt es nicht. Ein klares System, welche Wagen warum historisch aussehen, ist nicht erkennbar. Vielmehr dürfte es am zufälligen Vorhandensein entsprechender Fahrzeuge liegen – z.B. der Einheitswagen im Weißeritztal. Als Eigentümer der modernisierten Wagen der Strecke Cranzahl – Oberwiesenthal darf die SDG mit den Fahrzeugen formaljuristisch machen, was ihr beliebt.
Trotzdem sorgten im September die ersten im Internet gezeigten Aufnahmen vom „neuen 970-491“ unter Eisenbahnfreunden für heftige Diskussionen. Die Puristen unter ihnen sind ob der pseudohistorischen Gestaltung des Wagens entsetzt. Sie stellen fest:
- es gab noch nie einen Traglastenwagen mit 3.-Klasse-Bänken
- es gab noch nie einen (Altbau-)Traglastenwagen mit derartigen Spanplatten im Inneren
- Beschriftung und Lackierung vermischen verschiedene DR-Zustände mit eigenen Erfindungen
- die braunen Fensterrahmen passen nicht zu den „Rekowagen“ der SDG – so etwas gab es nie zeitgleich
Ihr Fazit
Der auf dem Rahmen des Mannschaftswagens neu aufgebaute SDG-Wagen hat mit dem einstigen 970-491 von Details und den Buchstaben „DR“ abgesehen nichts gemein! Das Phantasieprodukt passt in dieser Form zu keinem anderen Sitzwagen der SDG. Für sie ist völlig unverständlich, warum die SDG so viel Geld in die Hand genommen hat – aber dabei ein Fahrzeug entstanden ist, für welches es keinerlei Vorbild gibt, trotzdem aber die Buchstaben „DR“ trägt. Jüngere oder Eisenbahnfreunde ohne Detailkenntnisse erklären hingegen, ihnen sei es egal, wie der Wagen im Inneren gestaltet und beschriftet ist – sie mache allein die Aufschrift „DR“ glücklich – ganz egal, ob die braunen Fensterrahmen zur Beschriftung und den modernisierten Wagen der SDG passen.
Versuch eines Urteils
Der 970-491 hat geschichtlich gesehen keinerlei Vorbild – aber die SDG ist (bisher) nicht verpflichtet, Fahrzeuge in einen historisch korrekten Zustand zu versetzen. Etwas anderes wäre es, wenn in Jöhstadt, Schönheide oder bei der Traditionsbahn Radebeul ein solcher Phantasiewagen gebaut worden wäre. Trotzdem kann eine solche pseudohistorische Aufarbeitung von Altbauwagen Folgen haben: Zum Beispiel könnten Modellbahnhersteller ein Modell des Wagens für die Zeit vor 2013 herstellen, womit die Geschichte verfälscht wird. Schön, dass der Zerfall des ehemaligen Cranzahler Mannschaftswagen gestoppt worden ist. Bei seiner Aufarbeitung wurden mehrere Teile erhalten. In seiner äußeren Form ähnelt er von weitem einem Altbauwagen. Aufgrund des „DR“ erweckt das Fahrzeug den Eindruck eines Museumswagens. Dies könnte dazu führen, dass Reisende glauben, es hätte in Sachsen einst Wagen mit solchen Inneneinrichtungen und Lackierungen gegeben. Das wäre eine Entwicklung, die viele auf die Geschichte bedachte Eisenbahnfreunde und Museumsbahner mit Sorge erfüllt. Der 970-491 verwässert in seiner aktuellen Form damit das Bild der Reisekultur von einst. Das ist Betrug am Reisenden! Besonders bitter stößt vielen Museumsbahnern auf, dass mit dem in den Wagen investierten Geldbetrag der Vierachser ohne Mehraufwand auch hätte authentisch neu entstehen können. Vermutlich wäre es sogar billiger gewesen, den originalen Stil neu zu bauen.
Schlussfazit
Wie erwähnt hat die SDG zweifelsfrei das Recht, ihre Fahrzeuge in Sachen Optik und Ausstattung nach Gutdünken zu gestalten. Aber in dem Moment, wo sie die Buchstaben „DR“ anbringt, übernimmt sie eine moralische Verantwortung. Die SOEG in Zittau und die Döllnitzbahn in Mügeln zeigen eindrucksvoll, wie vorbildlich im SPNV tätige EVU damit umgehen können. Gemeinsam mit den in Sachsen aktiven Museumsbahnen haben sie in den vergangenen Jahren für die sächsischen Schmalspurbahnen mühsam ein Image aufgebaut, dass der Reisende im Freistaat in Wagen mit „DR“ ein stimmiges Bild vom Reisen in vergangenen Jahrzehnten erhält. Durch solche Alleingänge von SDG-Entscheidungsträgern – durchgesetzt übrigens gegen die Vorbehalte verantwortungsvoller Mitarbeiter der RVE-Werkstatt in Marienberg – wird aus Sicht auf die Geschichte bedachter Eisenbahnfreunde der „gute Ruf“ der sächsischen Schmalspurbahnen gefährdet.
Und letztendlich möge sich auch die SDG vor Augen halten: Wurde jemals einer der viel beschworenen „Normaltouristen ohne Fachinteresse“ von einem historisch korrekten Fahrzeug verschreckt? Richtig – nein! Entsprechend hätte die SDG mit einem originalgetreu restaurierten 970-491 – bei gleichem materiellen und finanziellen Aufwand – niemanden aus dem Hauptkundensegment vergrault, aber zugleich ein weiteres Kundensegment hoch erfreut. Diese Chance hat die SDG leider verpasst – aber noch ist es nicht zu spät, es bei anderen Wagen aus Freital und Radebeul besser zu machen. Der PK wird das beobachten.
18.10.2013