Regelspur- und Museums-Nachrichten
Verein Verkehrsamateure und Museumsbahnen e.V. (VVM) / ISEG
Abteilwagenkasten von 1865 geborgen
Wer besonders in den östlichen Bundesländern entlang von noch vorhandenen oder abgebauten Eisenbahnstrecken aufmerksam an Bahnwärterhäusern, Stellwerken und in angrenzende Privatgrundstücke schaut, der entdeckt sie bis heute: Kästen von meist in den 1920er und 1930er Jahren als Schuppen oder Lauben aufgestellten Eisenbahnwagen. Es handelt sich dabei meist um regelspurige G-Wagen oder Abteilwagen aus dem 19. Jahrhundert. Doch für keinen der so erhaltenen Fahrzeugtypen gibt es ein wirkliches Interesse von Eisenbahnmuseen oder -vereinen. Da sich fast alle Kästen nach knapp 100 Jahren meist ohne nennenswerte Erhaltungsarbeiten in einem schlechten Zustand befinden, werden Jahr für Jahr wertvolle Zeugnisse der Eisenbahngeschichte vernichtet. Eines der wenigen Gegenbeispiele gibt es nun aus Dresden-Pieschen zu berichten: Der Eigentümer eines am Leisniger Platz an die Zufahrt zum alten Leipziger Bahnhof zu Dresden angrenzenden Grundstückes fand beim Kauf der ehemaligen Kohlenhandlung hinter einer Verkleidung und unter einem Satteldach den Kasten eines Personenwagens vor, der einst über vier Sitzabteile verfügte, jedoch inzwischen keinerlei Inneneinrichtung mehr besaß. In den folgenden Monaten und Jahren ermöglichte er mehrfach interessierten Eisenbahnfreunden den Kasten zu besichtigen, von dem ein in Freiberg lebender Sammler um die Wendezeit das Fabrikschild geborgen hatte. Hersteller des Wagens war demnach die Berliner Firma Pflug im Jahr 1865. Nachdem sich Ende 2019 abzeichnete, dass die Standfläche des Wagenkastens ab dem Frühjahr 2020 für andere Zwecke benötigt werden würde, stellte der Grundstückseigentümer den Wagenkasten in einem bekannten Internetauktionshaus ein. Der Link mit diesem Angebot kursierte anschließend vor allem in Sachsen, aber auch darüber hinaus. Doch letztendlich meldeten sich lediglich drei Interessenten in Dresden-Pieschen. Dabei handelte es sich um ein Mitglied eines Eisenbahnmuseums aus Mittelsachsen, zweitens um einen Lokführer aus dem Raum Dippoldiswalde auf der Suche nach einem zünftigen Geräteschuppen für seinen Garten sowie drittens um in Aumühle bei Hamburg aktive Mitglieder des Vereins Verkehrsamateure und Museumsbahnen e. V. (VVM). Der erste Interessent legte kein Konzept vor und meldete sich recht bald nicht mehr. Daraufhin beriet sich der Grundstückseigentümer mit einem Vorstandsmitglied der Initiative Sächsische Eisenbahngeschichte e. V. (ISEG), was mit dem Kasten am besten geschehen sollte. Da die VVM-Mitglieder aus Hamburg den Aufbau mittelfristig auf Radsätze stellen und seine Inneneinrichtung nachbauen wollen, erhielten diese Eisenbahnfreunde letztendlich den Zuschlag. Am 22. Februar 2020 bereiteten sie mit Unterstützung von ISEG-Mitgliedern den Kasten auf die Verladung auf einen Lkw vor. Diese fand am 16. März 2020 statt, am nächsten Morgen brach der Lkw von Dresden gen Hamburg auf, wo der Wagenkasten inzwischen auf einem Skl-Beiwagen unter einem Dach steht. Wie schnell dort mit einer behutsamen Restaurierung des Abteilwagens begonnen werden kann, lässt sich aufgrund der aktuellen Verhältnisse derzeit nicht sagen. Es besteht die Hoffnung, dass beim Entrosten von Stahlteilen oder beim Entfernen von nach dem Ausscheiden aus dem Eisenbahndienst aufgetragenen Farbschichten die Betriebsnummer des Abteilwagens gefunden wird. Erst dann ließe sich mit letzter Sicherheit sagen, ob er einst zum Bestand der K.Sächs.Sts.E.B. gehörte.
Der Voreigentümer, vor allem aber Mitglieder der ISEG sind emotional noch etwas hin und her gerissen: Einerseits freuen sie sich über die Zukunft, der dieser Wagen in Aumühle bei Hamburg entgegensieht, doch sie empfinden auch eine gewisse Traurigkeit, dass es in Sachsen offenbar kein ernsthaftes Interesse am Erhalt derartiger Fahrzeuge gibt. Sollten sie sich mit letzterem Eindruck täuschen, dann können sich Eisenbahnfreunde mit Herzblut für Kästen regelspuriger Wagen aus dem 19. Jahrhundert jederzeit bei der ISEG melden – siehe www.der-letzte-sachse.de.
13.04.2020