Reisebericht
Bluebell Railway - Englands erste Museumseisenbahn
Eisenbahnen im Süden Englands
Eisenbahnen sind noch immer ein Transportmittel, das Jung und Alt magisch anzieht. Vor allem die Eisenbahnen mit Dampflokomotiven sind keineswegs Relikte aus einer alten Zeit, sondern Sinnbild für ingenieurtechnischen Erfindergeist, Innovation und Unternehmertum. Diesem „Virus“ sind nicht nur in Deutschland Hunderttausende erlegen, auch im Mutterland der Eisenbahn, auf den britischen Inseln, zieht es viele Menschen, vor allem Familien, zu den liebevoll gepflegten, rollenden Zeugnissen einer großen Industriekultur, die 1825 in England ihren Anfang nahm. „South Downs“ ist der Name für eine liebliche, äußerst reizvolle Hügellandschaft im Süden Englands zwischen Winchester im Westen und Eastbourne im Osten. Auch hier waren ab 1840 Eisenbahnen gebaut worden. Sie dienten dem Ausflugsverkehr begüterter Londoner, die in den Badeorten an der Südküste, wie Brighton, Eastbourne, Bexhill und Hastings, Ruhe und Erholung vor der lärmenden und quirligen Großstadt London suchten. Der Güterverkehr spielte deshalb stets eine untergeordnete Rolle auf diesen Strecken. Das hügelige Gelände stellte aber an die Ingenieure und Erbauer auch große Anforderungen, die sie mit dem Bau von Geländeeinschnitten, Brücken und Tunneln meisterten.
Englands erste Museumseisenbahn
1882 wurde eine Bahnlinie errichtet, die London und die berühmten Badeorte Brighton und Eastbourne über die Stadt Lewes, dem Sitz der Grafschaft East Sussex, miteinander verband. Sie gehörte der „London, Brighton and South Coast Railway Company“. Der Streckenverlauf fügte sich sehr harmonisch in die Landschaft ein, galt es doch, südlich von London die Hügel der South Downs bis in zu den Badeorten zu überwinden. Zunächst war sie ein Teil der sogenannten „Oxted Line“, die sich hinter der Stadt Oxted teilte und nach Lewes führte. In Lewes teilte sich die Strecke nochmals und führte westwärts nach Brighton und östlich nach Eastbourne und weiter nach Hastings, Rye und Dover. Von Lewes verlief eine weitere Verlängerung der Strecke bis zu den Seehäfen Newhaven und Seaford am Ärmelkanal. Dadurch gab es ein ganzes Netz teils auch alternativer Streckenführungen. Am 15. Juni 1955 wurde die Verbindung zwischen Oxted und Lewes aufgegeben, da mittlerweile Brighton von London aus über Howards Heath schneller erreicht werden konnte und diese Strecke auch elektrifiziert worden ist. Mit dem 1956 südlich von London eröffneten Flughafen London-Gatwick unweit dieser Strecke verlor die parallele Bahnlinie über Horsted Keynes endgültig an Bedeutung.
Übrig blieb ein Streckenabschnitt dieser Eisenbahnstrecke, wo sich in der Station Sheffield Park Englands erster Museumsbahnhof nebst einer rund 14,5 Kilometer langen Bahnstrecke bis Horsted Keynes als weltweit erste Museumseisenbahn etablierte. Die „Bluebell Railways“ (auf deutsch „Glockenblumeneisenbahn“) wurde am 7. August 1960 eröffnet. Der Betrieb der regelspurigen Museumsbahn wird durch überwiegend ehrenamtliche Tätigkeit der Vereinsmitglieder realisiert. Vor allem an den Wochenenden erlebt das Reststück der alten „Bäderbahn“ einen wahren Besucheransturm.
Die Strecke
Eine Fahrt mit der „Bluebell Railway“beginnt in Sheffield Park Station, wo sich die Zentrale der Museumseisenbahn befindet und man von äußerst freundlichem Personal empfangen wird. Sheffield Park ist eine der schönsten Gartenanlagen Südenglands, die sich unweit des Bahnhofes befindet. Der Erste Earl of Sheffield war im 17. Jahrhundert Besitzer und Namensgeber. In diesem 120 Hektar großen Park wachsen Bäume und Sträucher aus aller Welt. Mehrere durch Katarakte verbundene Seen bereichern diesen außergewöhnlichen englischen Landschaftspark. Neben dem Bahnhofsgebäude befindet sich ein zweiständiger Lokschuppen, in dem nicht nur Lokomotiven untergestellt, sondern auch repariert und gewartet werden. Nach Verlassen des Bahnhofes in Richtung der anderen Endstation Kingscote durchfährt der Zug Wiesen und Felder, vorbei an grasenden Rindern, Pferden und Schafen, die sich von der Vorbeifahrt unbeeindruckt zeigen. Selbst die sonst so scheuen Fasane zeigen wenig Interesse an den vorbeifahrenden Zügen. Mehrmals wird das Flüsschen Ouse gequert. Bei einer durchschnittlichen Steigung von 6 % müssen die Lokomotiven und das Personal ihr ganzes Können zeigen. Der Zug besteht aus Wagons, die in den Jahren 1945 bis 1955 für die British Railways gebaut worden sind. Gezogen wird der Zug von der Dampflokomotive 34059 der „Battle of Britannia“ - Klasse “ Sir Archibald Sinclair“, die nach einer langwierigen Rekonstruktion wieder regelmäßig zum Einsatz kommt. Nach acht Kilometern Strecke und 15 Minuten Fahrzeit kommen die Einfahrtssignale und die Bahnanlagen des Bahnhofes Horsted Keynes in Sicht. Dieser Bahnhof ist das Schmuckstück der Museumsbahn. Alle Anlagen sind hervorragend restauriert und befinden sich in einem ausgezeichneten Zustand. Der Besucher sieht sich in eine Zeit der Eisenbahnkultur der 1930er Jahre versetzt. Beeindruckend ist auch die Ausstellung von Reiseutensilien, Koffern und Reisetaschen. Eine Galerie von Eimern mit Sand und Wasser zur Abwehr von Feuersbrünsten komplettieren das historische Ambiente.
Ein ehemaliger Lokschuppen neben dem Stationsgebäude dient heute als Reparaturwerkstatt für Eisenbahnwaggons. Abgestellte Pullman „Dining Cars“ dienen als Restaurant für Familien und Gesellschaften. Einige dieser Waggons mit den klangvollen Namen „Fingall“, „Christine“ und Lilian“ fuhren in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts im Expresszug „Golden Arrow“ zwischen London und Paris. Gleich nach Verlassen des Bahnhofes Horsted Keynes taucht zur Linken der Kirchturm von Highbrook Village auf. Die Kirche wurde ebenso wie die Bahn im Jahre 1882 errichtet und ist berühmt für ihr Glockenspiel. Bei der lange geplanten abschnittsweisen Erweiterung der momentanen Inselstrecke Bluebell Line zu den nächsten Anknüpfungspunkten an das Eisenbahnnetz in Richtung Kingscote wurden auch wieder Schienen durch den nun folgenden 668 Meter (731 yards) langen Sharpthorne Tunnel verlegt. Er ist der längste Tunnel einer englischen Museumseisenbahn. Der Zug fährt nun am aufgelassenen Bahnhof West Hoathly Station vorbei. Gegenüber befinden sich die Gebäude einer Ziegelei, die einstmals das Material für die Brücken- und Bahnhofsbauten lieferte. Nach weiteren 6,4 Kilometern und 13 Minuten Fahrzeit ab Horsted Keynes erreicht der Zug den Bahnhof Kingscote. Kingscote ist ein ruhiger zweigleisiger Bahnhof, typisch für Bahnhöfe englischer Nebenbahnen. Hier endet zur Zeit die „Bluebell Railway“. Eine Verlängerung bis East Grinsted ist geplant, damit wieder Anschluß an das Netz des National Rail von und nach London sowie nach Tonbridge Wells entsteht. Am Ende der Bahnsteige gibt es eine Weiche zum Umsetzen der Lokomotiven.
Fahrzeugpark
Die „Bluebell Railway“ besitzt nach dem National Railway Museum (NRM) die zweitgrößte Sammlung in England mit einen umfangreichen Fahrzeugpark von mehr als 30 Lokomotiven und über 60 Eisenbahnwaggons, die alle in und bei den Bahnhöfen Sheffield Park und Horsted Keynes stationiert sind. Einige der bemerkenswertesten Lokomotiven in der Sammlung sind:
- 72 „Fenchurch“, 1872, A1 Terrier-Class
- 55 „Stepney“, 1875, A1 X Stroudley Terrier Class
- 96 „Normandy“, 1893, Class B4
- 65, 1896, O1 Class
- 9017 „Earl of Berkeley“, 1938, Dukedog-Class
- 541, 1939, Q-Class (innengelagerte Zylinder)
- 80151, 1957, Standard Class 4
- 21C123 „Blackmoor Vale“, 1946, Southern Railway-Lok des Expresszug „Golden Arrow“ (In der Reihenfolge: Bahn-Nummer, Name, Baujahr, Baureihenbezeichnung)
Außerdem besitzt die Bahn eine kleine Rangierdiesellokomotive mit einer Leistung von 350 PS. Sie trägt die Nummer 13236, ist 1956 gebaut worden und wird vornehmlich bei den Gleisbau- und Erweiterungsarbeiten nach East Grinsted eingesetzt. Der Personenwagenpark ist äußerst vielfältig. So stammt der älteste betriebsfähige Personenwagen Nr. 328 „Stroudley“ aus dem Jahre 1890. Bemerkenswert ist auch der Salonwagen „Director’s saloon“ von 1897. Ständig im Einsatz sind die Abteilwagen der früheren „Metropolitan Railway“, die zwischen 1898 und 1900 in großen Stückzahlen für den damals enorm wachsenden städtischen Eisenbahnverkehr gebaut worden sind. Regelmäßig werden auch Schnellzugwagons aus den 30er und 50er Jahren zu Zugeinheiten zusammengestellt. Auch eine umfangreiche Güterwagensammlung besitzt die „Bluebell Railway“. Sie besteht vornehmlich aus zweiachsigen Güter- und die für englische Güterzüge typischen Bremswagen. Am prägnantesten sind hier die Kesselwagen Nr. 4497 „SHELL/BP“ aus dem Jahre 1930, sowie Nr. 1921 „ESSO“ von 1942 und der Güterwagen Nr. 570027 „LMS Banana Van“ von 1946. Etliche Personen- und Güterwagen warten auf Abstell- und Nebengleisen auf ihre Aufarbeitung, so daß für die nächsten Jahre noch für ausreichend Arbeit gesorgt ist.
Betrieb auf der Museumsbahn
Die „Bluebell Railway“ fährt an allen Wochenenden des Jahres. Ansonsten beginnt der tägliche Fahrbetrieb Anfang April und endet Mitte November. In Ferien- und Urlaubszeiten verkehren stets mehrere Züge gleichzeitig. Zugkreuzungen finden dann immer im Bahnhof Horsted Keynes statt. Von den Bahnhöfen Lewes, East Grinsted und Haywards Heath bringen Zubringerbusse die Eisenbahnfans zu den Bahnhöfen der Museumseisenbahn. Die Bahn ist ein mustergültiges Beispiel für die Bewahrung von Zeugnissen einer bedeutenden Industriekultur. Kein Eisenbahnfreund kommt bei einem Besuch Südenglands an einem Besuch dieser außergewöhnlichen Museumseisenbahn vorbei. Mit vielen Veranstaltungen wird die „Bluebell Railway“ 2010 ihr 50jähriges Bestehen feiern. Für die Zukunft möchte man dieser einzigartigen Bahn und ihren Enthusiasten viel Erfolg wünschen.
14.12.2009