Kommentar
Deutschlandtakt „bereits“ in 47 Jahren oder: Realität ist immer voller Realsatire
Da hatte ich es doch im Editorial der vorigen PK-Ausgabe im Februar 2023 spitzfindig als „realitätsfern“ bezeichnet, dass der „Deutschlandtakt“ wie bisher von den verantwortlichen politischen Entscheidern postuliert, bis zum Jahr 2030 umzusetzen sei.
Nun bin ich fern aller Eitelkeit, dass gerade diese Zeilen in einer auf Eisenbahnfreunde fokussierten Zeitschrift zu einem plötzlichen Erkenntnisprozess beigetragen hätten. Aber einer gewissen Ironie entbehrt es nicht, dass Anfang März 2023 der Beauftragte der Bundesregierung für den Schienenverkehr, Staatssekretär Michael Theurer (FDP), den Termin 2030 abgeblasen und nunmehr 2070 als Ziel verkündet hat. Mangels Dementi des zuständigen Ministers oder des die Richtlinienkompetenz ausübenden Kanzlers wissen wir also nun Bescheid: Wohl kaum die Hälfte der geneigten Leserschaft dieser Zeitschrift werden in den Genuss des vollendeten Aufbaus des Eisenbahnsystems in Deutschland zu ihren nach heutigen Prognosen anzunehmenden Lebenszeiten kommen. Schade eigentlich.
In ihrer Plötzlichkeit und gerade einmal fünf Jahre nach der Verkündung des Zieles im Jahre 2018 durch den damaligen Amtsinsignieninhaber des Ministeriums, dem unvergesslichen Pkw-Maut-Desaster-Minister Andreas Scheuer, ist die Verschiebung um 40 Jahre nun doch etwas überraschend. Nun mag das mit dem für Bahnkenner ebenso überraschenden Strategiewechsel zusammenhängen, künftig ganze Bahnkorridore über mehrere Monate komplett zu sperren und quasi nach Abrissbirne den Fundamentalneubau zu praktizieren. Aber wahrscheinlich hatten auch die Strategieausdenker die Erkenntnis, dass das bisher praktizierte „Bauen unter rollendem Rad“ nicht effektiv sein kann, schließlich sieht man die Bauleute am Gleis ja immer rumstehen, wenn man an ihnen vorbeifährt. Irgendwie befällt mich jedoch der Verdacht, dass knapp ein halbes Jahrhundert Bauen nach dieser Strategie die Menschen in manchen Gebieten nicht nur gut von der Eisenbahn entwöhnen kann, sondern man bestenfalls nach Ablauf desselben wieder von vorn anfangen muss. Nur wird der Mehrzahl der Menschen – siehe genannter Lebenszeitaspekt – die Beweisführung nicht mehr so recht gelingen.
Wenn wir aber gerade einmal das Stichwort Beweisführung festhalten wollen: Wäre es nicht glaubhafter gewesen, den Zieltermin auf 2065 zu legen? Das wäre nämlich konkret in 42 Jahren. Und jeder Leser, der sich insbesondere schon einmal mit der „endgültigen Frage nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest“ beschäftigt hat, wird den Gedankengang sofort verstehen. Jedenfalls der ganze Rest wäre damit nämlich abgehandelt. Und beim Jahresanfang 2065 wären wir auch beim Preß´-Kurier Nr. 442.
Es ist nach solchen Gedankengängen nicht einfach, den Bogen wieder zu rationalen Pfaden zu führen. Ernsthafterweise muss man mit einigermaßen Sachverstand ja anerkennen, dass es für das Jahr 2030 wirklich schwer vorstellbar war, das ganze Eisenbahnnetz Deutschlands nach einem bundesweiten und dichtem Taktverkehr auszugestalten. Dafür wurde tatsächlich wenigstens in den vergangenen 32 Jahren zu viel demontiert und zu wenig investiert. Auch davor hatten die separaten Bahnen in Ost und West nicht das goldene Zeitalter, doch viele systemische Reserven sorgten im Westen für hohe Pünktlichkeitswerte und im Osten dafür, dass die Bahn wirklich ein Rückgrat der Volkswirtschaft war.
Das persönliche Eingeständnis der Kanzler, Finanzminister, Verkehrsminister und deren jeweiliger Parteien in den vergangenen Jahrzehnten, die Basis für den „Deutschlandtakt“ versemmelt zu haben, wäre auch ein Beitrag zur gesellschaftlichen Vermittlung der Verschiebung des Plans auf den „Sankt-Nimmerleins-Tag“.
14.04.2023