Geschichte(n) um das Preßnitztal
Der Glockenstuhl zu Schmalzgrube
„Vivos voco, mortuos plango, fulgura frango“ – dieser lateinische Spruch findet sich als Inschrift auf der größten Glocke im Münster von Schaffhausen aus dem Jahre 1486: „Die Lebenden rufe ich, die Toten beklage ich, Blitze breche ich.“
Friedrich Schiller stellte diese Worte 1799 seinem berühmten „Lied von der Glocke“ voran. Kaum ein Lebensbereich, in dem nicht einzelne Schläge oder ein stürmisches Läuten der Glocken zum Handeln aufrufen, Taten fordern – unerbittlich, mit der Bestimmtheit eines kategorischen Imperativs, mit der Symbolkraft eines Gesetzes, mit der Autorität eines Herrschers. Die schier unbegrenzten akustischen und musikalischen Möglichkeiten der Gegenwart und die Veränderungen im gesellschaftlichen Leben haben außerhalb des kirchlichen Lebens der Glocke die meisten alten Funktionen genommen.
Das Schließen der Schänken besorgt keine „Bierglocke“ mehr, die „Zinsglocke“ mahnt nicht mehr zur Steuerzahlung, keiner „Sturmglocke“ wird mehr die Warnung vor dem Feind anvertraut und auch der „teuflischen“ Macht eines Unwetters („fulgura frango“) versucht man nicht mehr mit dem beschwörenden Klang der Glocken beizukommen. Selten, dass dem Menschen von heute überhaupt noch Glocken begegnen. Meist hört er sie nur noch von den Kirchtürmen oder wenn eine Dampflok seinen Weg kreuzt.
Umso mehr muss der Anblick eines Glockenstuhles überraschen, der frei in der Landschaft zwischen Wäldern und Äckern auf einem Berghang seinen Standort hat. Wer mit der Schmalspurbahn von Steinbach aus durch das Preßnitztal aufwärts fährt, dem bietet sich nach wenigen Kilometern ein reizvolles Panorama. Das Tal öffnet sich zu einem Kessel, und malerisch schmiegen sich schmucke Häuser an die umliegenden Hänge des kaum mehr als 200 Einwohner zählenden Dorfes Schmalzgrube, heute ein Ortsteil von Jöhstadt. Vom Bahnhof oder von der daran vorbeiführenden Straße aus erkennt der Umschau haltende Reisende an der Berglehne im Norden einen kleinen Friedhof. An seinem Rand steht seit 1963 zu ebener Erde dieser Glockenstuhl.
Gestiftet wurden der Glockenstuhl und die vier Hartgussglocken in Dankbarkeit für das Überstehen des Zweiten Weltkrieges von der Familie Dietel, die einzelnen Stifternamen sind am unteren Glockenrand eingraviert.
Kaum ein zweiter Ort von der Winzigkeit Schmalzgrubes dürfte sich eines solchen Geläutes erfreuen. Seit 50 Jahren hallt nun sein Klang beim Abendläuten um 17 Uhr am Wochenende („Sonntagseinläuten“), zum Gottesdienst und zu den verschiedenen freudigen und traurigen Anlässen der Kirchgemeinde weithin über die Wohnstätten, Felder und Wälder der Umgebung.
Wer Glück hat oder die Zeiten kennt, kann der ernsthaft betriebenen, höchst kunstvollen Tätigkeit des Glockenläutens zuschauen, die hier noch mit der Hand ausgeführt wird – ein Vorgang, der in den Türmen der Städte und Dörfer dem Blick meist entzogen ist.
Das Ensemble von vier Glocken ist dabei viel mehr als nur ein weittönendes Signal, denn es stellt eine besondere Art von Musikinstrument dar. Sorgfältigste akustische Berechnungen und klangliche Überlegungen gehen der „Disposition“ von Glocken voraus, um harmonisch und melodisch reizvolle variable Zusammenklänge, Zweier- und Dreiergeläute zu erzielen. Bei der Entscheidung für den klanglichen Aufbau des Schmalzgruber Vierergeläutes handelt es sich um eine der heute gängigen Lösungen. Hier liegt ein Ausschnitt einer pentatonischen Reihe (g’, b’, c”, es”) vor, die sich bei der Spezifik des Teiltonspektrums der Glocke als am günstigsten herausgestellt hat.
Mögen diese Glocken noch viele Jahre Frieden verkünden und vielleicht auch den einen oder anderen Besucher der Preßnitztalbahn zu einem Abstecher verleiten.
18.02.2014