Eisenbahn-Technik
Das Latowski´sche Dampfläutewerk
Aus: „Bericht über die Deutsche Allgemeine Ausstellung für Unfallverhütung“, Berlin 1889, Carl Heymanns Verlag, 1891, Seite 472 - 474. Anmerkung der PK-Redaktion: Die im Original gebräuchliche Rechtschreibung sowie Formulierungen und Ausdruck wurde beibehalten
Signalvorrichtungen für Bahnbenachbarte
Das Herannahen des Zuges wird bei Hauptbahnen ausschließlich durch die Dampfpfeife der Lokomotive angekündigt. Bei den Nebenbahnen ist eine nachdrückliche Warnung der in der Näh des Bahnkörpers befindlichen Personen vor der Gefahr des Betretens des Bahnkörpers in höherem Maße erforderlich, weil selbst die Überwege bahnseitig nicht bewacht sind.
Die Bahnordnung für Deutsche Eisenbahnen untergeordneter Bedeutung schreibt daher vor, daß die Lokomotive mit helltönenden Läutewerken ausgerüstet sein sollen, und das Läutewerk bei der Annäherung an unbewachte Wegübergänge bis nach deren Durchfahren, sowie auch in der Nähe öffentlicher Verkehrsstraßen in Bewegung zu setzen sei. Der Gebrauch der Dampfpfeife ist auf die nothwendigsten Fälle zu beschränken, namentlich aber in der Nähe einer dem öffentlichen Verkehr dienenden Straße zu vermeiden (§ 35).
Diese Maßregel hatte sich als nothwendig erwiesen, da das häufig in der Nähe befindliche Zug- und Weidevieh, welches durch die schrillen Töne der Dampfpfeife scheu gemacht wurde und Gefahren für den Bahn- und Straßenverkehr herbeiführte, das Glockensignal gut verträgt.
Bis zur Einführung der genannten Bahnordnung hatte in seltenen Fällen eine Benutzung von mechanisch angetriebenen Läutewerken an Lokomotiven stattgefunden; in Berlin z.B. bei der alten Verbindungsbahn, von welcher jetzt nur noch der nächtlich betriebene Anschluß des Schlesischen Bahnhofs an die Gasanstalten in der Gitschinerstraße besteht.
Die Zahl der Bauarten wuchs mit dem Umfange der Anwendung sehr schnell; vollkommene Bewährung erntete jedoch keine; auch die Handglocke, der Mannschaft eine Belästigung, wurde da, wo es sein sollte, häufig nicht geläutet und erwies sich darnach als unzweckmäßig.
Erst das im Jahre 1883 eingeführte, in allen Staaten patentierte Latowski´sche Dampfläutewerk zeigte alle erforderlichen Eigenschaften, nämlich - mit Flußstahlglocken versehen - große Einfachheit, vollkommene Betriebszuverlässigkeit, sofortiges Ansprechen, Gleichmäßigkeit, geringe Kosten für Beschaffung und Anbringung, geringe Abnutzung, weder Wartung noch Schmierung, keine Frostbeschädigung oder Störung, Verständlichkeit der Anwendung ohne weiteres für jeden, und größte Tonstärke bezw. Schallweite (3 km und mehr). Wie jeder Erfindungsgegenstand, machte das Latowski´sche Läutewerk, den Erfahrungen folgend, der Bauart wie dem Glockenmateriale nach, seither mehrfache Verbesserungen durch. Dasselbe verdrängte bei den Nebenbahnen sofort alle bisherigen Läutewerke und die Handglocke. Bei den Hauptbahnen hat es neben der Lokomotivpfeife in Deutschland bisher keinen nennenswerten Eingang gefunden, wohl aber in Rußland, wo eine Verordnung des Ministeriums der Wegeverbindungen vom 6. November 1881 folgenden Wortlautes besteht: „In Anbetracht dessen, daß durch das Dampfpfeifensignal der Lokomotive die Pferde von Equipagen und anderen Wagen erschreckt werden, und nicht selten dadurch mitfahrende oder vorübergehende Personen verunglücken, erhalte jede Lokomotive außer der Dampfpfeife eine Glocke und soll diese zweckentsprechend benutzt werden.“
Auf Deutschen Bahnen ist das Latowski´sche Läutewerk etwa in 3.000 Ausführungen in Anwendung. Dasselbe hat den Vorgang beim Deckel des mit flüssigem Inhalte am Feuer stehenden Kochtopfes in zweckdienliche Form gebracht. In ein Gefäß von einem bestimmten Fassungsraume strömt durch eine kleine Öffnung ununterbrochen Dampf ein, welcher durch eine große, mit einer Ventilklappe (Bauart 1-5) oder einem Hubventil (Bauart 21-25) geschlossene Öffnung bei Aufgehen des Ventilverschlusses schneller entweicht. Die plötzliche Druckentlastung läßt die Klappe oder das Hubventil wieder zufallen u.s.w.
Mit dem Ventil ist der Hammer verbunden und jenes dadurch mit belastet. Behufs Vergrößerung des Hubes des Ventiles und damit des Hammers hat jenes in der von ihr bedeckten Öffnung eine kolbenartige Verstärkung, welche die Öffnung erst bei einem gewissen Hube frei werden läßt. Um die Wirkung und die Schlägeanzahl zu vermehren, ist der Hammerstil rückwärts zu einer Feder ausgebildet, verlängert und schlägt dort, wenn der Kolbentheil soeben die Öffnung bewirkt, federnd an, den Hub dadurch begrenzend. Der Hammer steht bei schließendem Ventile bezw. in der Ruhelage von der Glocke ab und schlägt erst bei dem Schwingen des Hammers, infolge seines Gewichtes und der lebendigen Kraft durchfedernd, an. Der Arbeitswiderstand desselben während des Ganges ist nur ¼ Atmosphäre.
Das Läutewerk wird in der älteren Grundform A mit freier Ausströmung des verbrauchten Dampfes (Bauart 1-5), in der neuen Form B mit Ableitung des Dampfes (Bauart 21-25) ausgeführt. Die Schallweite steht in gleichem Verhältnis zu den Glockengewichten. Das Gewicht der Glocke der am häufigsten angewendeten Art 3 beträgt 22 kg, deren Schallweite 3 km vor und 1 km hinter dem Winde. Die Glocke der Art 1, des größten Läutewerkes, wiegt 250 kg, diejenigen des kleinsten - Art 5 - nur 5 kg.
Die Glocken der Grundform A sind entweder aus Stahlguß oder aus Flußstahl hergestellt, beide sind zwar formgleich, ihrer Beständigkeit nach aber verschieden (letztere unbedingt beständig). Die Glocken der Grundform B werden dagegen nur in Flußstahl ausgeführt.
Bei den Lokomotiven pflegt das Läutewerk auf einer schalldämpfenden Unterlage auf dem Dache des Führerhauses angebracht zu werden, weil hier der ausströmende Dampf die Aussicht des Lokomotivführers nicht beschränkt, und außerdem eine gute Schallwirkung nach vorwärts und rückwärts gesichert ist.
Wenn die freie Dampfausströmung nicht statthaft ist, oder die Eigenthümlichkeit der Lokomotive die Aufstellung des Läutewerkes auf dem Dache ausschließt, so wird die neuere Grundform gewählt, welche übrigens eine erheblich größere Tonstärke hat.
Die Preußische Staatsbahnen haben ausschließlich die Bauart 23 eingeführt, die Sächsischen Staatsbahnen diese für die Normalspurbahnen, und die Bauart 24 für die Schmalspurbahnen.
Bei der allseitigen Anerkennung, welche die Vorzüge des Latowski´schen Läutewerks fanden (auch die X. Techniker-Versammlung des Vereins Deutscher Eisenbahnverwaltungen im Juli 1884 zu Berlin hat es sehr warm empfohlen), hat dasselbe sehr schnell auch außerhalb der Nebenbahnen Eingang gefunden, so z.B. im Betriebe von Industriebahnen, bei Erd- und Eisenbahnbauten, bei den Eisenbahnfähren am Rhein und bei Stralsund, sowie schließlich in gewerblichen Anlagen; in letzteren namentlich bei Dampfschiebebühnen und als Signal für Beginn und Schluß der Arbeitszeit.
07.04.1998